Das Schwein wird geschlachtet, das Blut kommt in die Wanne, die Gänse baden darin, die Fliegen setzen sich auf die Federn, der Falke frisst die Schlange, die Zwiebeln sind geschnitten, der Hubschrauber fliegt über das Dorf. Emir Kusturicas neuer Film ist eine große surreale Oper, die Naturgesetze sind außer Kraft, die Ereignisse stehen nebeneinander statt ordentlich chronologisch sortiert. Hier wird Atmosphäre generiert, es ist Kino wie gemalt und nicht gefilmt.
Im Zentrum der Handlung, sofern man davon reden mag, gibt es den Krieg, seine Gräben und jemanden, dessen Handwerk die Grenzüberschreitung ist. Der Krieg ist das Lieblingsmaterial des serbisch- kosmopolitischen Regisseurs; er hasst ihn und schreibt ihm zugleich Lieder. In seinem neuen Film „On the Milky Road“ ist der Held ein Grenzgänger, damit schließt Kusturica an frühere Werke wie „Underground“ an, seine großangelegte Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg.
Milchmann Kosta, von Kusturica selbst hintergründig verletzlich gespielt, passiert täglich auf dem Esel die diffuse Front eines Bürgerkrieges. Der hat seine Zeiten, und wenn die Turmuhr läutet, fliegen Kugeln und Granaten. Kosta scheint es nur beiläufig wahrzunehmen, zur Sicherheit dient ihm und den Milchkanistern ein schwarzer Schirm. Er schaut nicht hervor. Worüber soll er sich auch aufregen, erklärt man sich im Ort – der talentierte Musiker musste als Kind mit ansehen, wie sein Vater mit der Kettensäge geköpft wurde.
Die Zeit geht rum mit Schnaps und Zigaretten. Man kann förmlich zusehen, wie sie sich die Beine abrauchen! Aber raus kommt der Qualm bitte schön bei den Ohren. Skurrile Szenen nennt man das in anderen Zusammenhängen. Im Stummfilm anno 1919 würde es auch gut passen.
Die Milky Road ist der Weg durch ein sterbendes, blühendes Europa der Länder, einer durch die Natur. Schlangen begleiten den Boten, und wenn die Milch aus den zerschossenen Kanistern fließt, baden die Reptilien in den Pfützen. Ein mystisches Geschehen, von dem es einige gibt in diesem aus der Zeit gefallenen Film, in dem sich Hühner im Spiegel betrachten und Falken schwofen wie die tanzende Cola-Dose. Kusturica riskiert selbst eine Menge, ganz sprichwörtlich. In einer Szene frisst ihm ein riesiger Bär Apfelsinenstücke aus dem Mund. Nicht nur das Belebte ist belebt, auch die Gegenstände machen mobil: Ist es nicht die Turmuhr, die den Menschen in die Hand beißt?
Man dünkt sich in einem Film über das Leben kurz vor dem Tod. Ein Spätwerk des angejahrten großen Regisseurs, der hier viele Genres verknüpft; so ein Gehirn streamt, was es will. Eben auch Klischees: harte Krieger, liebestolle Frauen. Warum nicht mal fünf Minuten verschlafen, die Filmfiguren tun das doch auch! Nei-e-n, volle Konzentration: weil du nicht weißt, was im nächsten Moment passiert. Vielleicht zerreißt eine Granate das Dorforchester. Mutters Bett hat Rollen; Monica Bellucci, in der Fischreuse gefangen! Spezialeffekte – bei Ein-Euro-Ebay gekauft. Die beiläufige Story lässt einen verzweifeln, und manchmal glaubt man, Tele 5 zu gucken.
Die attraktive Milena (Sloboda Mićalović), Exturnmeisterin von Jugoslawien, will Kosta heiraten. Und wenn sie nicht zur Musik von „Flashdance“ so dilettantisch in den Handstand geht, dass man sofort weiß, sie wird irgendwo festgehalten, träumt sie von der Doppelhochzeit, gemeinsam mit ihrem Bruder Žaga (Predrag Manojlović), der irgendwie in Afghanistan zum einäugigen Kriegshelden wurde. Der hat sich eine geheimnisvolle Italienerin (Bellucci) bestellt. Kaum taucht sie auf, ist es um Kosta geschehen. Und auch sie, die nur »die Braut« heißt, ist Kosta mehr verfallen als dem Kriegsfürsten. Liebe im Film, keine Einbahnstraße. Als Milena und Žaga den beiden auf die Schliche kommen, bleibt dem Liebespaar nur durchzubrennen.
Lange währt das Glück nicht, wird »die Braut« doch auch von ihrem Ex gejagt, einem britischen General. Der hat seine Gattin für sie umgebracht, nun will er die Geliebte zurück. Dafür lässt er die komplette Szenerie und den mittlerweile geschlossenen Friedensvertrag von Spezialeinheiten in Schutt und Asche schießen.
Hä, Heirat, Hochzeit, noch ’ne Hochzeit – wen soll das interessieren? »Nach drei Geschichten und vielen Phantasien« sei der Plot geschaltet, so verklickert es uns die Einblendung. Den Soundtrack mal beiseite, der – für dieses Mal schließe ich mich dem Urteil des verstorbenen brasilianischen Kritikers José Carlos Avellar an, Filmmusik brauche kein Mensch, sie könne den Bildfluss erheblich stören – in Kusturicas Gesamtwerk die Konzentrationsfähigkeit wegtrötet, scheint es nicht um das reale Erleben zu gehen, sondern um die Lebensrennerei an sich. Zumindest wird den Rest des Films hindurch geflohen.
„On the Milky Road“ ist ein Crossover in die bildende Kunst. Du sollst dir die Einstellung merken, das Bild im Kopf mit anderen teilen. Der Film produziert regelrecht »Sharepics«, Standbilder für die Erinnerung, eine prägnante optische Aufarbeitung von Krieg. Etwa, wenn Kosta, um sich und die Braut zu schützen, eine Schafherde in ein Minenfeld treibt: Kadaverteile fliegen nur so umher.
Seinen Hang zur Darstellung extremer Grausamkeit lebt der Regisseur aus Bosnien-Herzegowina, der heute in Serbien und Paris wohnt, auch an anderer Stelle aus. Es wird gern mal lebendig verbrannt. Viel Liebe zum Detail lässt sich in diesem Theater of Hate ausmachen – andere Szenen wirken rüde geschlampt.
Was will dieser Film? Er will Bilder schöpfen. Und Sprache:
– Wann unterhalten wir uns mal?
– Nach dem Krieg.
– Er schnupft Staaten wie andere Koks.
– Ich bin nicht mehr, wer ich einmal gewesen bin.
– Vielleicht willst du sterben. Ich muss die Kinder durchs Studium bringen.
– Ich suche nach einer Wand, an die ich meinen Kopf schlagen kann.
»Ihr spinnt wohl«, sagt der Feldarzt, als er mehrere Opfer mit den gleichen charakteristischen Wunden operieren soll. »Ihr sagt, sie wurden von einer Uhr gebissen? Schwester, schicken Sie diese Leute zum Psychiater!« Kann gut sein, dass man nach diesem Film einen braucht.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret