Zweimal hatte Caravaggio sich in seinen letzten Lebensjahren eines ikonographisch reich tradierten Moments der Passionsgeschichte angenommen: „Die Geißelung Christi“ (1607) bestürzt und irritiert noch heute in seiner unmittelbaren Gegenüberstellung eines idealistisch-verklärten, die Marter still duldenden Christus mit der fast rauschartig bewegten Brutalität seiner Peiniger an den Bildrändern. Ein Folterknecht links im Bild, dessen Gesichtszüge in der Ekstase der Gewalt zu entgleisen scheinen, ist dabei ein markantes Bindeglied zum praktisch zeitgleich entstandenen Werk „Christus an der Geißelsäule“. Derselbe gedrungene, aber muskulöse Mann mit dem einfältigen Ausdruck taucht hier, ganz ähnlich gewandet, ebenfalls auf. Diesmal jedoch ist er nicht der unmittelbar die Geißelung Vollziehende, sondern er hält die Stricke, mit denen ein offenbar zum linken Bildrand hin strebender Christus an die Säule gebunden ist. Wundersam ist dabei die gänzlich andere Wirkung, mit der dem Betrachter dieser Knecht nun begegnet: Die Lust scheint einer gewissen Neugierde gewichen zu sein an dem Mann, auf den die Peitsche in diesem Moment niedergeht. Man möchte fast meinen, es läge ein Zaudern in seinen Zügen, ein Moment des Haderns damit, ob dieses Tun richtig sein kann. Es ist ein Zaudern, das sich auf das Werk im Ganzen zu übertragen scheint: Die Geißelung scheint hier eingefroren in dem letzten Augenblick vor ihrem eigentlichen Beginn. Der Körper Christi ist unversehrt, der Folterer konzentriert und unsicher zugleich. Ausgerechnet von dieser Szene, die in den Evangelien die eigentliche Kreuzigung an Drastik deutlich übertrifft, geht hier bei Caravaggio ein seltsamer Friede aus; eine Milde und Ruhe, die staunen lassen.
Eine praktisch originalgroße Kopie dieser so eigentümlichen Darstellung ist in Xavier Beauvois‘ neuem, in Frankreich ebenso heftig beworbenen wie bejubelten, an realen Ereignissen orientiertem Film, „Von Menschen und Göttern“, zu sehen. Sie hängt in der Zelle des alten Zisterziensermönches Luc, der mit einer Handvoll französischer Mitbrüder das Kloster Notre-Dame de l’Atlas im Norden Algeriens bewohnt und der, wie sie, im Verlauf des Films zwischen die Fronten der Auseinandersetzungen zwischen der algerischen Regierung und der radikal-islamischen GIA Mitte der 1990er-Jahre geraten wird: Nach einem ersten nächtlichen Eindringen von GIA-Kämpfern in die Klostermauern erwarten die Mönche mit Angst deren Rückkehr und wollen sich dennoch nicht von der korrupten und brutalen Armee vereinnahmen lassen.
In einer stillen, äußerst verlangsamten Szene des Films wendet Luc sich nun diesem Bild Caravaggios zu. Um sein Leben fürchtend und ringend mit der im Kloster diskutierten Entscheidung, ob man das extrem gefährdete Land nicht besser verlassen solle, betrachtet er eingehend die Gruppe um den leidenden Christus. Dann tritt er ganz nah heran und berührt schließlich die Brust Jesu, seine Seite, durch die später, am Kreuz, die Lanze gebohrt werden wird, lehnt sich daran und scheint zu lauschen, als spräche Gott – wie man im Mittelalter glaubte – durch die Werke, die ihn darstellen. In einer atemberaubenden Doppelung wird sich aber dieser Luc, der Arzt unter den Brüdern und zuständig für die medizinische Versorgung der ansässigen Bevölkerung, noch in einem weiteren Moment intensiv einem Leib zuwenden: In einer ebenso geronnen wirkenden Szene liegt ein angeschossenes Mitglied der GIA auf seinem Behandlungstisch. Anders als bei Caravaggio ist dieser „Gegeißelte“ jedoch bereits geschunden, der Oberkörper ist frei, die blutigen Wunden klaffen. Luc berührt und untersucht sie eingehend. Zwei Begleiter halten still den Körper des jungen Mannes fest, während dieser – wie Christus am Ölberg – mit seinen Schmerzen und seinem Gott ringt: „Insha’Allah“, oder, wenn man so will: „Dein Wille geschehe“. Ist die Unversehrtheit von Caravaggios Christus auch dahin: Ein tiefer Friede und eine ungeheure Sanftheit gehen von dieser Sequenz aus.
In Szenen wie dieser, vielleicht einer der anrührendsten dieses Filmjahres, hat Beauvois‘ Film seine stärksten Momente: Nicht, weil er vermeintlich oberflächlich-kühn einen radikalen Islamisten an ein Sujet der christlichen Ikonographie koppelt und ihn gar zur Christusfigur stilisiert, sondern weil er den späten Caravaggio gleichsam wörtlich nimmt und dessen Milde und Gnade, die auch auf die unbeantwortete, fast ängstliche Frage im Gesicht des Folterknechts scheint, in der Gestalt der Mönche ausbuchstabiert. An die Brust seines Erlösers gedrückt, wartet Luc schließlich auch auf ein Wort solcher Gnade und spendet sie den wunden Körpern, die ihm bei seiner Tätigkeit begegnen, egal, welchen Glaubens ihr Träger sein mag oder welcher Vergehen er sich schuldig gemacht hat. Für ihn und seine Mitbrüder ist der Mensch vom Leiden und der Bedürftigkeit her definiert – und Beauvois radikalisiert dies, indem er den leidenden Christus, seinerzeit ein Aufrührer und verbrecherischer Gotteslästerer, quasi durch das Zwiegespräch mit Caravaggio gnadenvoll einem leidenden, zu Gott flehenden islamistischen Terroristen begegnen lässt.
Obwohl bei alledem auch der Katechismus sozusagen seine Rolle spielt und „Von Menschen und Göttern“ in ausführlichen, ästhetisch jedoch wohltuenderweise nie überhöhten Bebilderungen die klösterlichen Messfeiern und das Alltagsleben der Brüder zeigt, sind die Mönche dieses Films somit doch in erster Linie schlicht von ihrem Auftrag überzeugte Menschen in einem fremden Land – die muslimischen Traditionen und Feste feiern sie ihrer eigenen Fremdheit entsprechend selbstverständlich mit und es erstaunt sie offenkundig keineswegs, dass bei einer Beschneidung ganz ähnliche Worte gesprochen werden wie bei einer Taufe. Christ zu sein wird von ihnen demnach als fortwährende Arbeit, nicht als Status verstanden. Dass aus diesem Glauben an eine alles auffangende Gnade natürlich letztlich auch eine unerschütterliche Standfestigkeit der Mönche gegenüber der allgegenwärtigen Gefahr erwächst – dass niemand das Kloster verlassen wird, dass niemandes Ängste so unerträglich werden, dass er die Flucht sucht und dass am Ende alle ruhigen Herzens in den Tod gehen – das mag man dem Film, nicht ohne Recht, als naiv und dann doch ein wenig zu „heilig“ anlasten. Wenn am Ende aber aus dem (nach den historischen Ereignissen tatsächlich veröffentlichten) Testament des Abtes Christian vorgelesen wird und man hört, wie dieser den Tod lediglich die Erlösung von der quälendsten Neugierde seines Lebens nennt, dann geht von diesem Film doch eine so konsequent und ernsthafte Zuversicht aus, dass man beinahe nur meinen möchte: Selig der, dem solcher Friede gegeben ist.