Susie sitzt auf der Weide und klagt Daisy ihr Leid, weil sie sonst niemanden hat, dem sie es klagen könnte. Susie ist – so verkündet es der Untertitel des Films und so werden es die Zwischentitel nicht müde zu betonen – ein einfaches Mädchen. Daisy ist eine Milchkuh. Der Film widmet dem Mädchen und der Kuh einige Einstellungen, die formvollendetes Zeugnis von der eigentümlichen Poesie ablegen, die „True Heart Susie“ auszeichnet, einen Film des Kinopioniers D. W. Griffith von 1919. Schweren Herzens beschließt Susie Daisy zu verkaufen, damit Bill aufs College gehen kann. Bill ist ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen (macht ihn das eigentlich zu einem „einfachen Jungen“? Oder ist die Einfachheit in diesem Film, der sich mit den Texttafeln zu Beginn auf ziemlich abstruse Weise feministisch gibt, doch ganz und gar Mädchen-Sache?) und von klein auf Susies großer Schwarm.
Susies Tante, bei der sie lebt, hält gar nichts von den Grillen ihrer Nichte. Allein die verstorbene Mutter hat verfügt, dass Susie entscheiden kann, was sie mit ihrem Besitz tut. Also wird Daisy verkauft und Bill geht auf die Uni. Dass Susie es ist, die für seine Bildung aufkommt, weiß Bill nicht. Er glaubt, sein Wohltäter sei ein Mann mit Auto, Anzug und Schnurrbart, der zu Beginn kurz auftaucht, vollmundige Versprechungen macht, um dann für immer aus dem Dorf und dem Film zu verschwinden.
Am College hat es Bill zunächst nicht leicht. Den unliebsamen Spitznamen Butter bekommt er aufgedrückt, weiß sich aber im Faustkampf dagegen zu erwehren. So wird Butter wieder zu Bill, kehrt schließlich als Sir William zurück ins Dorf und zur treuherzigen Susie, die natürlich auf ihn wartet. Sie bleibt nämlich immer: die treuherzige Susie.
Beim Eisessen deutet William auf die beiden Frauen neben ihnen an der Bar. Herausgeputzt, geschminkt und gepudert sind sie erst im Bildhintergrund zu sehen, gucken neugierig und herausfordernd rüber zu der Kamera und dem Paar, das keins ist. Dann gönnt der Film ihnen eine Nahaufnahme. Mit dieser Sorte Frauen, lässt William Susie wissen, flirten die Männer nur, heiraten tun sie dann aber genau die anderen: „the plain and simple ones.“ Susie, plain and simple wie sie ist, versteht das grundfalsch.
Bald schon muss sie jedoch herausfinden, was die Blickstrukturen dieser Szene dem Zuschauer längst verraten haben: Dass sich nämlich das männliche Begehren gerade nicht auf die Frauen richtet, die zum Heiraten da sind. Dass auch Susie ein Begehren hat, scheint Bill gar nicht zu merken. Also takelt sie sich auf, rüstet sich zum Kampf gegen die „Schminke- und Puder-Brigaden.“ Nur sind Kampf und Sex nicht die Rolle, die der Film ihr zudenkt, sondern Aufopferung und Enthaltsamkeit.
William ehelicht schließlich Bettina, genau die Sorte Frau, die Männer seinen eigenen Worten zufolge nicht heiraten. Griffith lässt das vermeintliche Eheglück zweimal ablaufen: Zuerst in der Wunschvorstellung Williams – da betüddelt Bettina ihn liebevoll und bekocht ihn festlich (dass der Film diese biedere Männerphantasie als biedere Männerphantasie darstellt, ist natürlich verdammt interessant), dann in der Realität: Da ist sie mies gelaunt, unaufmerksam – und das kalte Fleisch trocken und zäh. Auch mit der Treue hat sie’s nicht. Einmal schleicht sie sich nachts aus dem Haus, um auf eine Party zu gehen. Auf dem Rückweg im Kabrio gerät sie in ein Unwetter, einen gewaltigen Regen, der das Bild zu fluten, die Kadrierung aufzuweichen scheint.
Übrigens: Für die Zeit nicht unüblich, sind die schwarzweißen Bilder von „True Heart Susie“ mit einer Farbschicht überzogen: Während die Außenaufnahmen bläulich schimmern, sind die Innenräume in Sepia gehalten. So auch in der Parallelmontage – wie so viele technisch-formale Neuerungen im Kino der damaligen Zeit eine Innovation, die auf Griffith zurückgeht –, die abwechselnd Bilder von Susie zuhause und Bettina im Auto, im sintflutartigen Regen zeigt. Mit den zwei Frauen stellt Griffith auch bräunlich-gelb und blau, Innen und Außen, Tempo und Starre, die beengende Stube und die vollkommen entfesselten Naturgewalten gegeneinander. Dass man kaum nachdenken muss, um zu sehen, welche der beiden faszinierender ist, legt ein wunderbares Zeugnis davon ab, wie die Wucht der Bilder das Korsett der bigotten Moral der Erzählung sprengt.
Ist der große Regen die vorgezogene Erfüllung der berühmten Prophezeiung, die Travis Bickle mehr als ein halbes Jahrhundert später aussprechen sollte? Jedenfalls für Susie ein wohlmeinender Eingriff von oben. Bettina liegt mit einer Grippe darnieder und stirbt wenig später. Nun ist der Weg frei, auf dem Susie und William in der letzten Einstellung Hand in Hand aus dem Film gehen.
Allein der letzte Zwischentitel legt uns nah, dass wir diesem Bild, diesem Märchen glauben mögen – oder auch nicht.
„True Heart Susie“ liegt seit 24. 01. 2014 erstmals in Deutschland bei absolut Medien auf einer leider denkbar schmucklosen DVD vor. Sie bietet den Film in restaurierter Fassung mit deutschen Untertiteln zu den englischen Zwischentiteln, sonst nichts.