Vermummte DemonstrantInnen. Prügelnde PolizistInnen. Feuer. Graffiti. Lines auf einem Spiegel. Ein Konzert. Ein Mädchen, das ein Buch liest. Eine zerstörte Familie beim Essen am Tisch, der für einen mehr, einen Toten gedeckt ist (eisig die Atmosphäre, Entfremdung pur). Eine Familienfeier (ausgelassen die Atmosphäre, doch der Jugendliche allein, isoliert zwischen all den Menschen, die ihm nahe stehen sollten, es aber nicht tun). Eine flüchtige Begegnung einer jungen Frau mit ihrer ebenfalls noch recht jungen Mutter in der Küche. Ein Gespräch über Verhütungsmittel. Danach die Scherben eines Glases auf dem Fußboden, über die ein nackter Fuß wandert (ein verdammt eindringliches, sich in die Erinnerung einbrennendes Bild). Ein Gruppenfoto mit Kalaschnikow und Colt (die unterschiedlichen Erzählungen der Waffen, der Revolver, der die Menschen gleich macht, das Sturmgewehr der Revolution, werden eins in den Händen einiger verirrter Jugendlicher). Ein Mädchen, das im Versteck sitzt und masturbiert, während sie auf ihren Freund wartet, der nicht ans Telefon geht. Zwei Männer, einer von ihnen der Freund des Mädchens, das auf ihn wartet, die miteinander ins Bett gehen.
Fünf jungen Menschen, an denen die Kamera langsam entlang fährt. Gebieterisch stehen sie da, im Hintergrund eine pittoreske Landschaft mit See und Hügeln. Der letzte von ihnen, auf dem die Kamera stehen bleibt, zieht schließlich eine Pistole, fuchtelt mit ihr herum. Von dieser Einstellung kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Und das tut es dann auch. All the way. (Wo 1987 in Alan Parkers „Angel Heart“ Mickey Rourke noch den Fahrstuhl hinab nahm, wo Robert De Niro auf ihn wartete, gehen die fünf Jugendlichen hier in der letzten Einstellung, die in einer Rotblende endet, ein langes Treppenhaus hinunter – in die Hölle, in der sie sich doch von Anfang an befanden, nur das ihre sowieso denkbar ungestüme Rebellion gegen die Verhältnisse nun endgültig gescheitert ist.)
Eine Szene oder eigentlich vielmehr ein Requisit bildet in „To xypnima tis anoixis“ (deutscher Titel: „Spring Awakening – Aufstand der Jugend“) ein Mise en abyme. Die weiblich Hauptfigur, Ionna (Daphne Patakia), entreißt ihrer Mutter einmal ein Album, von dem sie vorgibt, es für die Schule gemacht zu haben, in dem sich Zeitungsausschnitte über Gewaltverbrechen neben Fotos von vollautomatischen Waffen finden. Ein solches Album ist der Film von Constantine Giannaris. Ein Fotoalbum der Rebellion und des Aufstands einer Jugend, die viel zu sehr verloren scheint, gemeinsam in der Geschichte eines Landes am Abgrund und jede/r für sich in der eigenen Biographien, als dass es noch möglich wäre, ihre schwelenden Aggressionen politisch zu kanalisieren. Darin besteht – sicherlich nicht ausschließlich, aber doch wohl im Kern – ihre große Tragik.
Das schlägt sich schon in der Form des Films nieder. Immer wieder wird der Bilderfluss, der eh schon einen Teufel tut, sich für die Ansprüche einer Narration im engeren, konventionelleren Sinne bändigen zu lassen, unterbrochen von freeze frames, die, eben wie in einem (digitalen) Fotoalbum, gerahmt, in ein künstliches Sepia getaucht, mit allerlei optischen Effekten versehen, die Szenen festhalten, in denen sich die jugendlichen ProtagonistInnen befinden. So sehen wir auf diese Art Ionna auf dem Klo sitzend, rauchend. Und ein anderes Mal ist ihre Muschi zu sehen, die gerade geleckt wird. Aber davon abgesehen, dass die Schauspielerin Patakia den vier männlichen Darstellern um sie herum, den anderen Mitgliedern ihrer Gang, ziemlich gnadenlos die Show stiehlt, inszeniert sie der Film nie als reines Objekt männlicher begehrender Blicke. Vielmehr gehört zu dieser Muschi auch ein Kopf, der auf schließlich maximal zerstörerische Weise weiß, was er will.
Zu den eingefrorenen Bildern der Szenen, die ihre Ausweglosigkeit verdeutlichen, kommen im gleichen grafischen Stil gehaltene Bilder von Graffiti an den Wänden der Stadt, wir befinden uns in Athen, die das Geschehen weiter kommentieren („I shot the sheriff“, „Bullen – eure Kinder werden euch töten“, „Bewaffnet euch‘)
Natürlich kann man all dem erst einmal sehr skeptisch gegenüber stehen, muss man den suggestiven Einsatz von Affektbildern, wie sie der Film praktiziert, nicht gutheißen. Ja, an jeder Straßenecke scheint hier die Gefahr zu lauern, in reine Revolutionsfolklore abzurutschen, wie man sie im Kino zum Beispiel aus dem schrecklichen „Mandela – Long Walk to Freedom“ kennt. Jedoch vor all dem, jeder berechtigten Skepsis entgegenstehend ist in „Spring Awakening“ die Dringlichkeit, mit der der Film eine selten gesehene Intensität entwickelt.
„Gewalt war auf einmal schön,“ sagt einer der Jugendlichen in dem Polizeiverhör, das den Rahmen der Erzählung bildet, das verdeutlicht, wir kennen das aus den retrospektiv vom Ende her erzählten Voice Overn im Film Noir, die sich wie ein fatalistischer Schleier über die eigentliche Handlung legen, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. Diese Rahmung durch die Verhöre, in denen den jugendlichen Verdächtigen oft brutale Gewalt angetan, der Albaner unter ihnen darüber hinaus auch rassistisch beleidigt wird, setzt nach ihrer grausamen Tat den gesellschaftlichen Zwang, den sozialen Druck fort, der sie erst zu dieser getrieben hat, ja, verschärft ihn noch.
In dem mörderischen Verbrechen kann man dann gut beobachten, wie die letzten Reste von politischer Legitimation der Gewalt schwinden, wie das Es sich über das Über-Ich erhebt – wie es nun einmal in aller interessanten Kunst zu geschehen pflegt. Dass die Opfer Deutsche sind, bei denen Ionnas Mutter als Masseurin arbeitet, mag man noch als die Verteilung der (ökonomischen) Macht im Griechenland in Zeiten von Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik erkennen, die Tat läuft dann aber auf nichts anderes als auf persönliche Bereicherung und Rache hinaus. Die Verhältnisse sind zu stark, zu übermächtig, um sie verändern zu können. Alles worauf die Rebellion noch hinaus kann, ist grenzenloses Leid unschuldiger Menschen. In einer nicht endenden Spirale der Gewalt reproduziert sie genau die Machtverhältnisse, denen sie zuallererst entsprungen ist. Stark ist, wer die Waffe in der Hand hat – aber auch das nicht für lange Zeit.
Giannaris hat einen ohnmächtig wütenden Film gemacht, wie er im Kino der Gegenwart selten geworden ist. Als Referenz fällt mir eigentlich nur der natürlich ästhetisch vollkommen anders gelagerte, eher Scorseseeske „Menace II Society“ der Hughes Brothers ein oder auch Brian De Palmas vielleicht pessimistischster Film „Blow Out“. Darüber hinaus gelingt es Giannaris wie wenigen RegisseurInnen der Gegenwart, ganz und gar visuell zu erzählen. Der Film kommt über weite Strecken mit sehr wenig bis gar keinem Dialog aus.
Dass ein so aufregender, düster energiegeladener Film wie dieser, glaubt man der IMDb, nirgends außer in seinem Herkunftsland einen Kinostart bekommen hat, ist schon ziemlich traurig. Immerhin kommt der Film nun in Deutschland bei Pierrot Le Fou auf DVD, Blu-Ray und als Video on Demand heraus. Leider ist diese Edition, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie den Film mit umfangreichem Bonusmaterial in den gesellschaftlich historischen Kontext seiner Entstehung einbindet, denkbar spartanisch ausgefallen. Mit an Bord sind nur ein Trailer und ein Wendecover – sonst nichts.