»Ich habe immer die These vertreten, dass Hitler ein Mensch war.«
Joachim Fest, Historiker
Das ging nun selbst dem nachsichtigen Joachim Fest entschieden zu weit. Albert Speer, dessen Erinnerungen Fest lektoriert hatte, hatte sich eines Vergehens schuldig gemacht, das schwerer wog als die Taten, deretwegen er bei den Nürnberger Prozessen angeklagt worden war. Der NS-Rüstungsminister und Chefarchitekt des »Dritten Reiches« hatte seinen Lektor und späteren Biographen angelogen. Ein Historiker, der, anders als Fest, recherchiert hatte, deckte 1981 auf, dass Hitlers Baumeister bereits 1941, also lange vor seiner Ernennung zum Rüstungsminister, für die »Entjudung« ganzer Stadtviertel Berlins gesorgt hatte und also keineswegs die unpolitische Künstlernatur, der »Engel, der aus der Hölle kam« (Speer-Verleger Wolf Jobst Siedler), war, an dessen Mythos Fest so eifrig mitgemeißelt hatte: »Das Buch von M. Schmidt (Matthias Schmidt: Albert Speer. Das Ende eines Mythos; M. H.) gelesen«, notierte Fest damals. »Sehr voreingenommen, aber die Beweise eben nicht unerheblich. Im ganzen enthält es exakt, was ich mitunter befürchtet hatte. Es gab also doch, entgegen den Beteuerungen Speers, ›Geheimnisse‹. Enttäuscht und verärgert. Zu Siedler sagte ich heute, Speer habe uns allen mit der treuherzigsten Miene von der Welt eine Nase gedreht. Ich sei nicht bereit, ihm das nachzusehen.«
Fests »Wendung« kommt freilich etwas spät. Kurz vor Schmidts Enthüllung ist Speer auf einer Interviewreise in England gestorben, als reicher angesehener Mann, der nach der Haft in Spandau mit Fests und Siedlers Hilfe noch eine zweite Karriere als Bestsellerautor hatte erleben dürfen. Von einem Neuanfang als Architekt hatten ihn seine beiden PR-Berater mit der Begründung abgehalten, man »könne nicht ›Germania‹ entwerfen und dann eine Bierfabrik irgendwo in Schleswig-Holstein«.
Siedler, damals Chef des Propyläen Verlags, nimmt die Verfehlung seines Schützlings um einiges leichter. »Er empfindet«, schreibt Fest, »meine ›Verdammung‹, wie er das nennt, als zu hart und einigermaßen pietätlos. Ein späteres Urteil werde alle Seiten zu berücksichtigen haben. Dem kann man kaum widersprechen.«
Ein Urteil, das es allen Seiten recht machen will, liefert jetzt, mehr als 20 Jahre später, Heinrich Breloer mit seinem dreiteiligen Fernsehfilm »Speer und er«, der im Mai, begleitet von reichlich Mediengetöse, in der ARD läuft. An dessen absehbarem Erfolg will Fest, Autor der Buchvorlage zum Kinohit »Der Untergang«, ebenfalls ein bisschen mitverdienen, indem er die Protokolle seiner Gespräche mit dem Naziminister veröffentlicht, die vor allem den Fragesteller entlarven.
Fest und Siedler tauchen in dem »Dokudrama« wiederum als Breloers Gesprächspartner auf, als Experten, die zu Speer, einem »ersten Zeugen, wie er einem Historiker selten zur Verfügung steht« (Fest), ein »Vertrauensverhältnis« aufgebaut hatten, d. h. mit ihm privat verkehrten, feierten und auf Sylt in den Dünen lagen.
Auch Breloer, der sich nun als Zerstörer des Mythos Speer geriert, hatte den Stararchitekten einmal kennenlernen dürfen: »… wie einnehmend sein Wesen war … Ich war begeistert: Der große Speer gibt mir ein Interview.« Sein Bild von Hitlers Kumpan habe sich während der Recherchen aber »deutlich verfinstert«. Vor allem in der Dokumentation »Nachspiel – Die Täuschung« und dem Gesprächsband Unterwegs zur Familie Speer konfrontiert er die Aussagen des Rüstungsministers, der »nichts gewußt« haben will, und auch jene Fests und Siedlers, die Speer dies abgenommen haben, mit neueren oder (wie im Fall Schmidts) vergessenen Forschungsergebnissen: Speer hatte nicht nur Deportationen veranlaßt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in seinen Steinbrüchen und im KZ Mittelbau-Dora muß der Mann, der den Zweiten Weltkrieg und damit den Holocaust um zwei Jahre verlängerte, ebenso gekannt haben wie die Baupläne von Auschwitz, in denen Gaskammern, Krematorien und Leichenhallen akribisch aufgeführt waren.
Dennoch fällt Breloer immer wieder hinter diese Erkenntnisse zurück. So wenn er sinniert: »Aber was, wenn ihm (Speer; M. H.) wirklich klargeworden wäre, daß er der Freund des Mannes war, der die Juden umgebracht hat?« Wie Fest kreist auch Breloer immer wieder um die Frage der »Verbrechenskenntnis« Speers. Daß der »Reichsminister für Rüstung und Munition«, einer der mächtigsten Nazis während des Krieges, selbst ein Verbrecher gewesen ist – diese Idee, die dem Historiker Fest bis heute nicht gekommen ist, verliert auch der Regisseur Breloer immer wieder aus den Augen.
In »Speer und er« klittert er Geschichte auf seine bewährte Art, wie man es schon aus dem RAF-Melodram »Todesspiel« kennt: Die Koryphäe des so genannten Qualitätsfernsehens montiert an sich bereits fragwürdiges dokumentarisches Material, vor allem Propaganda aus der NS-Zeit, Gespräche mit »Zeitzeugen« resp. »Experten« und Spielszenen, die die Lücken in der Geschichtsschreibung füllen sollen und die eigene Version zur Wahrheit erheben. Die von Speer in die Welt gesetzte und von Fest verbreitete Legende von der unpolitischen Künstlernatur, die in schlechte Gesellschaft gerät, dem »Charme Hitlers« erliegt und sich heillos »verstrickt«, spinnt Heinrich Breloer trotz aller Vorbehalte fort. In den nachgestellten Vier-Augen-Gesprächen zwischen Hitler und Speer übernimmt er die Version des ersten und einzigen Zeugen weitgehend unkritisch und gibt noch einen guten Schuss Melodramatik dazu. Während der Minister seinem Führer gegen Ende des Krieges einen Brief schreibt, in dem er an ihn appelliert, das »tapfere und anständige Volk« nicht durch Zerstörung der eigenen Infrastruktur zu schädigen, bröckeln Trümmer von der Decke auf ihn herab. Beim Besuch im Bunker verkörpert er gegenüber dem wahnhaften Hitler, der das deutsche Volk opfern will, obwohl der Krieg unwiderruflich verloren ist, die Ratio – und riskiert seinen Kopf dabei. Bei den deutschen Fernsehzuschauern wird Speer posthum mit seiner vor den Nürnberger Anklägern erprobten Verteidigungsstrategie durchkommen: Obwohl er seinem Führer bis zuletzt die Treue schwor, war er, weil er sich weigerte, den »Nero-Befehl« auszuführen, doch eigentlich ein Widerstandskämpfer.
Bei Fest liest sich das so: Trotz seiner »kritischen Distanz während der Endphase des Regimes … fühlte Speer sich verpflichtet, einem als Verbrecher erkannten Zerstörer des eigenen Landes bis zuletzt eine zumindest persönliche Loyalität zu schulden«. Hitlers Vergehen bestand also im Grunde genommen in einem Mangel an Patriotismus. Der Holocaust interessiert Fest nicht – spätestens hier zeigt sich, dass der Lektor seinem Autor ideologisch sehr viel näher war, als er glauben machen möchte. In einem Interview, das er der »Berliner Zeitung« zum 60. Jahrestag des Kriegsendes gab, bemängelt der ehemalige »FAZ«-Herausgeber, dass »Auschwitz als eine jüdische Ikone präsentiert« werde. Schließlich seien nicht zuletzt auch Deutsche umgebracht worden. Auch in Fests Verwandtschaft habe es Widerstandskämpfer gegeben. »Es war eine verschwiegene Art, gegen die Nazis zu sein. Und diese Leute sind nachher als Nazideutsche totgeschlagen worden.«
Breloer hält sich auch an das von Fest in die Welt gesetzte Bild von Speer, wenn er den Spandauer Häftling als reuigen Sünder mit Zivilcourage zeigt, der sich von den unbelehrbaren Mitgefangenen beschimpfen lassen muss. Ein Opfer, aber irgendwie auch ein Held.
Neben der Lächerlichkeit des erneuten Versuchs, die Rolle Hitlers mit einem deutschen Schauspieler zu besetzen (Tobias Moretti, bekannt aus »Kommissar Rex«, müht sich im Gegensatz zu Bruno Ganz an einem volkstümlichen Hitler mit Wiener Schmäh ab, um des Führers Charmeoffensive zu illustrieren), fällt bei der Besetzung vor allem auf, dass Sebastian Kochs Speer noch einnehmender und rhetorisch gewandter ist als der reale. »Sie können ein Gespräch über eine Figur oder einen Menschen dann leichter in Gang setzen«, erläutert Breloer, »wenn Sie eine Figur so gestalten, dass sie den Zuschauern nahekommt, dass sie mit Empathie den Weg eines Menschen begleiten.« Und Sebastian Koch, der Andreas Baader aus dem »Todesspiel«, erklärt auch gern, warum er seine Rolle so und nicht anders spielte: »Ich glaube nun mal nicht daran, dass Speer ständig mit Bedacht gelogen hat. Speer hat geglaubt, was er sagte.«
In den Mittelpunkt seines Dreiteilers stellt Breloer jedoch Speers eigentliche Opfer: seine Kinder. Frank Schirrmacher, der das Werk in der »FAZ« als Meilenstein feiert, erkennt in den »siebzigjährigen Kindern« die »Helden dieses Films. Sie haben über Jahrzehnte hinweg die Last zweier Leben tragen müssen. Es rächt sich, von Hitler getätschelt worden zu sein.« Drei von den Nachkommen – die Tochter Margret Nissen, die ihren eigenen Beitrag zum Speer-Gedenkjahr in Buchform geliefert hat, ist nicht darunter – sind mit Breloer auf Reisen zu den Orten ihrer Jugend gegangen und haben sich bereitwillig seinen betont einfühlsamen Fragen (»Träumen Sie manchmal von Ihrem Vater?«) gestellt, denen der Produzent Thilo Kleine eine »fast psychoanalytische, therapeutische Dimension« bescheinigt. TV-Therapie für Täterkinder – warum nicht? Das Fernsehen ist schließlich »im Grunde ein sehr intimes Medium«, wie Breloers Drehbuchautor Horst Königstein versichert. Für den Zuschauer ist es jedoch nur bedingt erhellend, die Gesichter der Speer-Sippschaft, die sich teils ratlos gibt und teils um die Ehrenrettung des Vaters bemüht, minutenlang in Großaufnahme zu betrachten.
Im Vorwort seines Gesprächsbands wirbt der nachgeborene Täterversteher Breloer um ein wenig Mitgefühl: »Meiner Generation sind die Entscheidungen erspart geblieben, vor die unsere Eltern gestellt wurden. Wir hatten Glück – wir sind nicht in so düstere Zeiten hineingeboren worden. Deshalb darf es hier keine moralische Überheblichkeit geben, denn wir wissen nicht, wie wir gehandelt hätten … Und auf der Suche nach Antworten begegnen wir immer wieder einem Rätsel: der Verführbarkeit des Menschen.«
Und spätestens hier, im Raunen vom großen Rätsel der menschlichen Natur, trifft sich der vermeintliche Speer-Kritiker Breloer wieder mit dem »vernehmenden Lektor« (Siedler über Fest). So »enttäuscht und verärgert« Fest nach Schmidts Enthüllungen über seinen Autor auch gewesen sein mag, sein Fazit von 2005 klingt schon wieder versöhnlich, denn auch Speer wusste nicht, was er tat: »Die Gespräche mit Speer handeln vom Rätsel seines Lebens. In den Widersprüchen, die es begleiten und schließlich ganz und gar beherrschten, hat Speer selber sich so ausweglos verfangen, dass er … immer weniger irgendeine halbwegs überzeugende Antwort darauf hatte. Am Ende wurde er sich selber zum größten Rätsel.«
Hören wir abschließend, wie Breloer die von ihm verehrte Kollegin Leni Riefenstahl mit ihrer Rolle im »Dritten Reich« konfrontiert: »Aber es muss auch persönlich mit Ihnen etwas geschehen sein. Albert Speer und vielen anderen ist es ja genauso gegangen, dass sie in seinen (Hitlers; M. H.) Bann gezogen wurden – es muss etwas im Herzen vorgegangen sein.« Da will man sich eines lieber gar nicht vorstellen: wie Breloers Film ausgefallen wäre, wenn sein Untersuchungsobjekt noch am Leben wäre und dem »vernehmenden Regisseur« Rede und Antwort gestanden hätte.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2005