‚Kannst du mich nicht kaufen?‘ Die Protagonistin blickt direkt in die Kamera, ihre Frage richtet sich an die Regisseurin. Das könne sie nicht, erklärt Rokhsareh Ghaem Maghami dem resigniert in einer Ecke kauernden Mädchen, denn eine Dokumentarfilmerin soll nun mal die Realität zeigen, nicht in sie eingreifen. Und die Realität ist, dass die 16jährige Sonita zurück nach Afghanistan muss, um mit einem Unbekannten zwangsverheiratet zu werden. Ihr Bruder braucht die 9.000 Dollar, die ihre Familie für sie bekommen soll, um sich selbst eine Braut zu kaufen. So ist ihre Bestimmung, so ergeht es jedes Jahr 15 Millionen Mädchen. Doch in diesem Film läuft gar nichts nach Plan, weder nach dem der Scharia noch nach dem des Filmteams.
In den drei Jahren, in denen die iranische Regisseurin das afghanische Mädchen begleitet, hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das Maghami nicht unterschlägt: ‚Stell mir andere Fragen‘, fordert Sonita einmal oder: ‚Stell die Kamera aus. Ich will mich hinlegen und mein Kopftuch abnehmen.‘ Sonita ist als Kind auf der Flucht vor den Taliban als Illegale in Teheran zurückgeblieben. In einer NGO-Einrichtung für Flüchtlingskinder hat Maghami die Halbwaise entdeckt und drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Dort fördert man das Mädchen, das Kinderarbeit verrichten muss, erstmals; unter den im Vergleich zu Afghanistan liberaleren Bedingungen hat es den Traum entwickelt, Rapperin zu werden.
Natürlich greift ein Dokumentarfilmer immer schon durch seine Anwesenheit in das Geschehen ein – und hier ist es erstaunlich, in welch intimen Situationen die Kamera dabei ist: als NGO-Mitarbeiter Sonita helfen, ihre Fluchttraumata per Rollenspiel aufzuarbeiten; als die Kinder im inoffiziellen Schulunterricht aufschreiben sollen, wie sie sich ihre Wunscheltern vorstellen (Sonita nennt Michael Jackson und Rihanna); als Sonita in irritierend ausdruckslosem Tonfall mit ihrer Mutter diskutiert, die schließlich aus Afghanistan gekommen ist, um die bereits versprochene Braut gegen ihren Willen heimzuholen; als Sonitas Ersatzmutter, eine Sozialarbeiterin, mit der Mutter verhandelt, die aber auf alle Versuche, Mitgefühl für ihre eigene Tochter zu wecken, nur erwidert, sie selbst habe viel früher heiraten müssen, Tradition bleibe Tradition. Wenn sie 2.000 Dollar erhalte, würde sie Sonita allenfalls noch ein halbes Jahr Gnadenfrist im Iran gewähren. Die NGO kann und will das Geld, das ihrem Schützling langfristig nicht helfen würde, nicht zahlen.
Hier, kurz vor der Abreise von Mutter und Tochter (die Drohung, die Brüder würden sie sonst holen, steht im Raum), fällt die Regisseurin aus ihrer Rolle – und treibt in letzter Minute die 2.000 Dollar auf. Sie wird nun selbst zur Figur ihres eigenen Films und ist öfter im Bild. Selbst der Tonmann kommt mit dem Einwand zu Wort, dass sie die Realität nicht manipulieren dürfe. ‚Wenn wir nicht eingreifen, wäre der Film jetzt zu Ende‘, erwidert Maghami und macht aus ihrer Dokumentation nun auch einen Film über eine (nicht ganz uneigennützige) Filmemacherin, die nicht anders kann, als sich einzumischen – einen Film über Frauen, die nicht handeln dürfen, aber sich selbst dazu ermächtigen. Männer tauchen hier allenfalls als Randfiguren auf.
Die Gnadenfrist nutzt Sonita zum Songschreiben; sie bringt andere Flüchtlingsmädchen dazu, mit ihr in einem trostlosen Hinterhof zu rappen. Musikproduzenten sind weniger begeistert, nicht zuletzt, weil Frauen im Iran nicht erlaubt ist, als Solokünstler aufzutreten. Erst als Sonita einen Song über ihre eigene aktuelle Zwangslage schreibt, beißt ein Produzent an. Das Musikvideo, das sie unter dem Titel ‚Brides for Sale‘ auf Youtube stellt, mag etwas platt geraten sein, aber es entfaltet seine Wirkung und wird ein Erfolg. Das Intro ist geflüstert, ‚damit niemand hört, dass ich vom Verkauf von Mädchen spreche‘. Dann beginnt die traurige junge Frau im Brautkleid und mit einem Barcode auf der Stirn, laut zu werden: Sie singt von Frauen, die stumm bleiben müssen und ‚wie Schafe gehalten‘ werden. Wie kann sie der eigenen Mutter, die sie an einen Unbekannten verkaufen will, ihre ‚Menschlichkeit beweisen‘? ‚Was du mir antust, würden Ungläubige nicht Muslimen antun.‘ Sonitas Overacting im Musikvideo bildet einen Kontrast zur erschütternden Nüchternheit, mit der Mutter und Tochter im Dokumentarfilm um den Verkauf feilschen, und zur beeindruckenden Unaufgeregtheit, mit der die Frauen, die sich für Sonita engagieren, existentielle Themen erörtern.
Doch der Erfolg als Sängerin führt dazu, dass die iranische NGO sie nicht mehr unterstützen darf. Der Film nimmt nun nervenaufreibende Wendungen, wie sie ein fiktionales Drama nicht besser arrangieren könnte. Die Regisseurin wird mehr und mehr zur Mentorin und Dolmetscherin und fädelt ein, dass Sonita ein Musikstipendium in den USA bekommt. Auf den Freudentaumel folgt Höllenangst. Für die Reise braucht Sonita einen Pass, sie hat aber nie auch nur eine Geburtsurkunde besessen. Der einzige Ausweg: Sie muss zurück in ihren Heimatort, um die Papiere zu besorgen. Die Frauen fürchten, dass die Familie sie dort festhalten wird, und planen ein Täuschungsmanöver.
Zu Beginn des Films sieht man die noch kindlich wirkende Sonita auf das ausgeschnittene Bild eines Popstars ihren eigenen Kopf kleben. Am Ende wird der Teenagertraum, auf einer Bühne zu stehen und bejubelt zu werden, zumindest im kleinen wahr. Doch schwere Schuldgefühle der Mutter gegenüber begleiten Sonita noch lange. Man versteht besser, warum sich viele Mädchen nicht einmal zu wehren versuchen. Denn so unwahrscheinlich Sonitas Geschichte ist, täuscht der Film nicht über die realen Verhältnisse hinweg. Auf einen Befreiungsschlag kommen unzählige Tragödien. Wie es der Musikerin ohne das Eingreifen der Filmemacherin ergangen wäre, zeigt Maghami ebenfalls: Sonitas Freundinnen erzählen sich, zu welchem Preis sie verkauft werden (‚3.000 oder 12.000 Dollar, mit oder ohne Möbel‘), beneiden sich, wenn sie wenigstens keinen alten Mann heiraten müssen, und verschwinden irgendwann. Auch ihnen verleihen Film und Song eine Stimme.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2016