Früher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es noch richtige Helden. Paul Averhoff zum Bespiel, der Langstreckenläufer, den damals, in den Fünfzigern, so verkündet das Voice-Over im Vorspann, jedes Kind kannte. Dazu: Das Gesicht von Jungspund-Supersportler Dieter Hallervorden in historische Schwarz-Weiß-Bilder tuschiert. Der Mann, der in Zeitlupe alles gibt. Die Massen jubeln ihm zu. Das Berliner Olympiastadion vom Himmel aus. Deutschlands Hoffnung in heroischer Siegerpose mit dem Bundesadler auf der stolzgeschwellten Brust. Ja, so schön war das damals in der Adenauer-BRD, im Wirtschaftswunder, als „wir“ endlich wieder wer waren und das scheinbar einzige, was von der derzeit noch verdammt jungen Geschichte übrig blieb, ein paar Nazi-Bauten waren, in denen nun endlich wieder Triumphe gefeiert werden durften.
Nun ist Paul Averhoff (Dieter Hallervorden) in der Gegenwart der 2010er aber alt geworden. Von dem Glanz und Gloria des Anno Dazumal kündet im schmucken Häuschen im Grünen nur noch ein gerahmtes Foto auf dem Kaffeetisch. Zwar ist er ein rüstiger Rentner, der noch im Garten auf der Leiter steht und Äpfel pflückt, aber seine Frau Margot (Tatja Seibt) fällt dann doch etwas zu oft in der Küche hin. Findet jedenfalls Tochter Birgit (Heike Makatsch) und spricht ein Machtwort: Die beiden müssen ins Altersheim.
Der dortige Alltag – Singen, Kastanien-Männchen Basteln in der Ergotherapie, Sommer-, Herbst- und Frühlingsfeste als saisonale Höhepunkte – ist für Paul aber gar nichts. Er möchte der Welt, die ihn offenbar abgeschrieben hat, zeigen, was auch mit knapp Achtzig noch in ihm steckt. Er beginnt für sein letztes Rennen zu trainieren. Den Berlin-Marathon möchte er noch einmal laufen, noch einmal gewinnen.
Alt geworden ist auch Dieter „Didi“ Hallervorden. Das Komiker-Urgestein gehörte zum (kleinbürgerlichen) West-Berlin wie der Kaffee im Kranzler oder die Fahrt mit der Moby Dick auf dem Wannsee. Nachdem er sich zuletzt vorwiegend als Kabarettist und Theater-Direktor hervortat und in Film und Fernsehen eher in kleineren Rollen zu sehen war, ist „Sein letztes Rennen“ seine erste Leinwand-Hauptrolle seit zwanzig Jahren. Damit nicht genug: Der Dieter möchte das Image seiner Didi-Figur, mit dem er mit einer Reihe von Klamauk-Komödien in den Achtzigern die bundesdeutschen Kinosäle füllte, endlich loswerden. Ein seriöser Schauspieler möchte er sein. Also dreht man im Cinemascope-Format, knapp zwei Stunden lang. Also holt man sich den jungen Regisseur Killian Riedhof, der bislang nur fürs Fernsehen gearbeitet hat, stopft die Nebenrollen voll mit allerlei (Semi-)Film-und-Fernseh-Prominenz (alles so angelegt, dass ja niemand in Versuchung kommt, dem Hallervorden die Show zu stehlen) und erzählt – ganz wichtig – die Geschichte von einem, der es im Alter allen noch mal so richtig zeigen will.
Um die Größe dieses Unterfangens zu unterstreichen, bedient man sich ausgiebig aus der Rumpelkammer christlicher Symbolik. Da wird der im Garten joggende Hallervorden zur himmlischen Vision stilisiert, erblickt zuerst von einer Greisin, die, im weißen Nachthemd, das weiße Haar vom gleißenden Sonnenlicht beschienen, eine engelsgleiche Erscheinung abgibt. Weil man das wahrscheinlich noch für zu subtil hielt und das Publikum nicht überfordern wollte, wird er am Ende dann auch noch Jesus-mäßig ans Bett fixiert. Als er es schließlich doch noch – selbstverständlich in letzter Sekunde – an den Start schafft, wird die frohe Botschaft in einer Messe verkündet. Auferstanden ist er, um anzutreten. Halleluja!
Nun braucht einer wie Paul, einer wie Dieter, ja auch eine Welt um sich herum, der er beweisen muss, was er auch im Alter noch kann. Da ist seine Frau Margot, deren Resignation es zu überwinden gilt, damit sie sich wieder in ihre Rolle als Erfüllungsgehilfin der Träume ihres Mannes fügt. Da ist die chronisch von allem und jedem überfordert durch ihr Leben mäandernde Makatsch-Tochter. Stewardess, Mittelschichts-Jet-Set, Angst vor festen Bindungen, Angst vorm Ankommen … so sehr, dass sie sich gegen Ende in hypnotische Techno-Beats, Whiskey und Ecstasy flüchten muss. Da sind die Bewohner des Heims. Am markantesten wohl der Mann, der im Namen von Zucht und Ordnung immer mal wieder so richtig auf den Tisch haut, und dem Aufsehen, das Pauls Plan erregt, sofort feindlich gegenübersteht. Von ihm lernen wir übrigens, dass früher auch nicht alles gut war: erst der Krieg und die Trümmer, dann die Studenten und der Terrorismus. (Überhaupt: Wie selbstverständlich und perfide die Kriegserfahrungen der 1945 etwa Zehnjährigen hier für eine Entschuldungsfiktion ausgeschlachtet werden. Natürlich konnten sie nichts für ihre gefährliche und entbehrungsreiche Kindheit. Nur scheint an dem Krieg, dessen Opfer gewiss auch sie waren, nicht einmal mehr Hitler schuld zu sein, geschweige denn ihre Elterngeneration.) Außerdem die schwarz tragende, kettenrauchende Berufszynikerin im Rollstuhl. Sie brüllt ihrem Sohn Nazi-Lieder auf den Anrufbeantworter, um endlich seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Klappt natürlich. Klappt bei deutschen Gutmenschen („Meine Mutter hat seit 100 Jahren SPD gewählt!“) ja immer. Da ist das Pflegepersonal, angeführt von Oberdrache Katrin Sass, die ihrer Rolle zwar eine angemessen sarkastische Bissigkeit verleiht, was ihre Figur aber auch nicht weniger eindimensional macht. Da sind die Psychologen, die’s ja vielleicht gut meinen, aber sich letztlich Diagnosen wie „agitierte Depression“ wohl auch nur ausdenken, weil ruhig gestellte alte Menschen eben leichter zu verwalten sind, als welche, die noch Träume haben. Da ist schließlich Pfleger Tobias, einer der ersten, die Pauls Idee unterstützen und der uns das Altersheim erklärt: „Zu wenig Pfleger. Die Hälfte davon ungelernt und aus Thailand oder Polen oder weeß ick nich wo. Hat doch alles System hier. Hauptsache, das Haus wirft ’n bisschen Kohle ab.“ Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Ein bisschen Rassismus ist offenbar ganz okay, wenn er nur schön als Kritik am „System“ verpackt wird.
Nach und nach wird Paul sie alle auf seine Seite ziehen, sie von seiner Sache überzeugen. Hallervorden spielt das mit einer Arroganz, mit einer Art emotionaler Senilität gegenüber seiner Umwelt, die durchaus interessant sein könnte, würde sich der Film nicht so affirmativ dazu verhalten. Die sich beim internationalen Arthaus-Kino anbiedernde Qualitätsfernsehens-Professionalität, mit der das gefilmt ist, das hirnlähmende Pathos, mit dem das erzählt ist, sollen wohl unter anderem darüber hinwegtäuschen, wie wenig in diesem Film eins zum anderen passt. Wie verträgt sich der Humor des Films, der sich größtenteils in Schwerhörigkeits- und Alzheimer-Witzchen erschöpft, denn nun mit dem Anliegen, sich für ein würdevolleres Altern einzusetzen? Wie passt die geschmackssichere leise Melancholie der Bilder in der ersten Filmhälfte zum Schreihals-Diskurs über die skandalösen Lebens- und Arbeitsbedingungen in heutigen Altersheimen, bei dem man immer wieder meint, eine Bild-Reportage zu lesen (dass denn auch ausgerechnet die Bild „Sein letztes Rennen“ als „Meisterwerk“ bezeichnete, passt zu gut ins, tja, Bild, um es unerwähnt zu lassen. Allein waren sie mit dieser Einschätzung denn aber ganz und gar nicht: Bei der Premiere des Films in Hamburg gab es standing ovations.) Um das alles schließlich zusammenzukriegen, um eine Runde Happy End für alle auszugeben, bedarf es dann schon eines Wunders, des Marathon-Wunders von Berlin.
So sieht er also aus: Der neue deutsche Wohlfühlfilm.
Am 28. März erscheint „Sein letztes Rennen“ auf DVD und Blu-ray. Als Extras gibt es einige Interviews, zwei Audiokommentare von Hallervorden, Regisseur Killian Riedhoff u.a. Dass man an eine Hörfilmfassung für Blinde und ein Wende-Cover gedacht hat, ist zwar erfreulich, macht den Film aber auch nicht besser.