Von einer Sichtung von Mario Bavas „Rabid Dogs“ (OT: ‚Cani arrabbiati‘) vor etlichen Jahren ist mir vor allem das Ende des Films im Gedächtnis geblieben. Im Jahr 1974 greift dieser fiese kleine Thriller der Welle von Twist Ending-Filmen ab der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre vor. Wie in „The Sixth Sense“, „Fight Club“ oder „The Others“ ist auch hier am Ende alles anders als es schien, wird den Zuschauenden durch eine finale Volte der Boden unter den Füßen weggerissen, die ganze bisherige Identifikationsstruktur über den Haufen geworfen. Es ist eine wahre Glanzleistung, dass das mit den sehr beschränkten Mitteln eines niedrig budgetierten B-Movies für mich – zumindest damals beim ersten Sehen – ebenso gut funktionierte wie mit denen mittelgroßer Hollywood-Produktionen 25 Jahre später. Dieses Ende, an dem es auf einmal keine Unschuldigen mehr gibt und wir einsehen müssen, dass wir unseren moralischen Einsatz gut 90 Minuten lang auf das falsche Pferd gesetzt haben, hat wohl auch maßgeblichen Einfluss auf mein Verständnis der nihilistischen Weltsicht des Exploitation-Kinos gehabt, dem der Glaube an das Gute im Menschen sehr gründlich abhanden gekommenen ist.
Nach dem Überfall auf die Lohnkasse eines Pharmaunternehmens können die drei Räuber Dottore (Maurice Poli), Trentadue (George Eastman) und Bisturi (Don Backy) mit einer Geisel, Maria (Lea Lander), entkommen. An einer Kreuzung steigen sie mit vorgehaltener Waffe in das Auto von Riccardo (Riccardo Cucciolla) ein, der ein krankes schlafendes Kind auf dem Rücksitz hat, und zwingen ihn, gemeinsam mit ihnen zu fliehen.
Es liegt beinahe auf der Hand, dass das – sehr buchstäblich – desillusionierende Ende des Filmes, der dieser Tage bei Tiberius Film in einer monumentalen, aber leider nicht ganz unproblematischen – dazu später mehr – 5-Disc-Edition erscheint, bei einer wiederholten Sichtung an Schlagkraft verliert. Umso erfreulicher, dass ich fast vergessen hatte, was für ein Meisterstück in inszenatorischem Minimalismus der Film, der auf dieses Ende zusteuert, doch ist. Aus der Not der Beschränkungen des Budgets wie des Schauplatzes des Films, der zum größten Teil in einem einzigen Auto spielt, weiß der hier bereits am Ende seiner Karriere stehende Genre-Maestro Bava eine Tugend zu machen, indem er die Gesichter seiner Darsteller_innen zum Hauptschauplatz macht. Der treibende Score von Stelvio Cipriani setzt zur äußersten Begrenzung des Raumes keinen Kontrapunkt, sondern unterstreicht ihn noch durch die kontinuierliche Variation einer einzigen Melodie. Das in rudimentärer Psychologie entwickelte Drama zwischen dem Figurenquintett ist keines, das unter der Oberfläche brodelt, es vollzieht sich vielmehr immer auf der Oberfläche ihrer zunächst nur schweiß-, später teils auch blutüberströmten Gesichter.
Da ist das verzweifelte, angstverzerrte Antlitz von Lea Lander. Da sind die irren, bärtigen, lüsternen Fratzen von Don Backy und George Eastman, die immer wieder so fies lachen, wie nur die Bösen in italienischen Genre-Filmen fies lachen können. Ihre Rollennamen heißen übersetzt Klinge nach der Mordwaffe of choice der einen Figur und 32 nach der Penislänge der anderen. Auch der glatt rasierte, sonnenbebrillte Maurice Poli hat einen sprechenden Namen: Er ist der Dottore, der Verstand, der die Aufgabe hat, die überschäumend maskuline, sadistische Energie von Schwert und Schwanz im Zaum zu halten, ohne dabei selbst zu nachsichtig mit den beiden Geiseln zu werden. Schließlich die undurchsichtigste der Figuren, der schnurrbärtige Riccardo Cucciola, für den die Rolle der bürgerlichen Anständigkeit eben das ist: eine Rolle.
Meisterlich eingesetzt sind die Mittel von Close-Up und Zoom. Einmal zoomt die Kamera von der Augenpartie Lea Landers durch das offene Autofenster zurück in die Halbtotale, nur um einige Einstellungen später den umgekehrten Weg zu beschreiten, zurück ins Innere des Autos, zurück auf die Augen, in denen längst keine Hoffnung auf einen Ausweg mehr schimmert. Zur Zwangssituation dieses Innenraums gibt es in „Rabid Dogs“ kein Außen mehr. In dieser Szene werden außerhalb des Autos die Leichen entsorgt, die während der Fahrt anfielen. Auch die größte Demütigung für die Lander-Figur erfährt sie außerhalb des Autos. Als sie eine Pinkelpause für einen Fluchtversuch nutzt, wird sie schließlich von Trentadue und Bisturi gestellt und dazu gezwungen, ihre Notdurft im Stehen und unter dem geilen Gelächter der beiden Männer zu verrichten.
Und dann ist da eben das Ende, das uns nackt zurücklässt, aller Illusionen und Hoffnungen beraubt, allein in einer feindlichen Welt. Vielleicht besteht der eigentliche Twist dieses Endes darin, dass es den Zuschauer in die Rolle des wehrlosen weiblichen Opfers drängt. Wenn der Abspann einsetzt, meint man das fiese Gelächter zu hören, das nun uns gilt, die wir entblößt vor diesem Film stehen.
Zur Blu-ray: Die Edition, mit der Tiberius Film „Rabid Dogs“ jetzt wieder zugänglich macht, beinhaltet das Original und das 2015 in französisch-kanadischer Koproduktion entstandene, original „Enragés“ betitelte Remake auf zwei Blu-rays und drei DVDs. Eigens für die Box angefertigt wurde ein Video-Intro mit Marcus Stiglegger. Ferner gibt es einen Audiokommentar von Tim Lucas sowie einige, bereits an anderer Stelle erschienene Features, die unter anderem Aufschluss über die turbulente Entstehungsgeschichte des Films geben, dessen Produktionsfirma noch vor Abschluss der Dreharbeiten pleite ging, und der so erst 1997, 23 Jahre nach dem Dreh fertiggestellt und veröffentlicht werden konnte. Das reich bebilderte Booklet bietet einen Text von Peter Blumenstock, der an der ersten DVD-Veröffentlichung des Films beteiligt war sowie einen von Thorsten Hanisch über George Eastman. Außerdem erfährt man etwas zu der alternativen Version des Films, für die Mario-Sohn, „Dogs“-Regieassistent und „Pop-Auteur“ (Eskalierende Träume) Lamberto Bava gemeinsam mit dem Produzenten Alfredo Leone 1996 neue Szenen drehen ließ, die Musik und das Ende des Films veränderten und ihn unter dem Titel „Kidnapped“ herausbrachten. Es ist schade, dass sich diese Version nicht in der Edition findet. Ebenso bedauerlich, aber wohl nicht zu vermeiden, ist, dass kein einheitliches HD-Master vorliegt und die Bildqualität so immer wieder und teilweise in ein und derselben Einstellung erheblich schwankt. Einen echten Fauxpas hingegen erlaubt sich das Label, was das Bildformat anbelangt. Das alte europäische Breitbildformat von 1,66:1 wurde auf 1,78:1 zurechtgestutzt, um minimale schwarze Balken an den Bildrändern heute üblicher Fernseher zu vermeiden. Eine Unart, die schon die Freude an den ansonsten formidablen Veröffentlichungen der Roland Klick-DVD-Box vorletztes Jahr oder der Blu-ray von Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ erheblich schmälerte.
Zum Remake: Gerade bei solchen Klassikern, die sich im filmischen Minimalismus übten, in der äußersten Beschränkung von Schauplatz, Figurenpsychologie und -ensemble, machen es sich die Remakes, die die Stoffe für die Sehgewohnheiten eines nachgewachsenen Publikums updaten sollen, zur Aufgabe zu verkomplizieren, zu psychologisieren (vielleicht zeigt sich darin auch, wie sehr die Sehgewohnheiten inzwischen auch im Kino durch den Boom des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens beeinflusst werden). Das war etwa bei John Carpenters bereits 2004 neu aufgelegtem Meisterwerk „Assault on Precinct 13“ (1976) so und das ist bei „Enragés“, dem Regiedebut von Éric Hannezo, nicht anders. Also gibt es eine in rot getauchte Backstory der Gangster, die genau nachzuvollziehen ich nicht die geringste Lust verspürte. Also verfährt sich die Gruppe gegen Ende des Films in einem nächtlichen „Fest des Bären“, was schließlich auch den Bodycount erheblich in die Höhe treibt und den Film um einen kleinen Home Invasion-Twist anreichert. Also werden die Gesichter-im-Auto-Close-Ups, aus denen das Original maßgeblich bestand, auf das Notwendigste reduziert. So schlimm wie sich das vielleicht anhört, ist es freilich nicht, etwas mehr als das stylische Nichts von einem Film, das ich nach den ersten Einstellungen erwartete, ist „Enragés“ dann doch geworden. Jedoch treibt mich immer gerade bei grundsoliden Neuverfilmungen, die es doch nicht schaffen, aus einer neuen Zeit und einem anderen Schauplatz Kapital zu schlagen, die Frage nach ihrer Existenzberechtigung um. Ich halte es da eher mit Sidney Prescott und ihrer ersten Regel für Remakes: „Don’t fuck with the original.“