Hubschraubergeräusche, noch vor den Titeln, die dann mit elegantem retrofuturistischen Minimaltechno unterlegt sind. Ein Postkarten-Totale von Paris mit Louvre, Notre Dame und Centre Pompidou, dann geht es runter in die Metro. Früher Nachmittag. Eine ausgesucht divers durchmischte Gruppe junger Menschen zwischen modisch interessierter jeunesse dorée, Business-Look und HipHop-Outfit bewegt sich offenkundig gemäß einer wohl informierten Choreografie durch ein Paris ganz unterschiedlicher Milieus. Es kommt zu kurzen Begegnungen. Blicke werden gewechselt, Gesten der Zugehörigkeit, aber keine Worte. Schnell lösen sich die Begegnungen dann auch wieder auf, was die Kamera auf das Eleganteste dokumentiert. Nur nicht auffallen. Mobiltelefone werden entsorgt. In stylisher Slowmotion. Autos werden umgeparkt, Kofferräume geöffnet. Plastiktüten transportiert. Sprengstoff platziert. Kommuniziert wird via Smartphone. Eine Anspannung liegt in der Luft, zumal die jungen Akteure zwar einem präzisen Plan zu folgen scheinen, dabei aber nicht sehr abgeklärt auftreten.
Alles ein Spiel? Stadtführung gefällig? Raus nach La Defense! Wir hören die Namen der (bestürzend gepflegten) Metro-Stationen, bekommen Stadtplan-Ausschnitte und Uhr-Zeiten zur Orientierung an die Hand. Zwischenzeitlich verlässt der Film die Gegenwart und liefert ein paar Szenen, die vielleicht von der Entstehung der Gruppe erzählen. Man traf sich in der Kneipe bei Prüfungsvorbereitungen oder im Warteraum bei Arbeitsamt. Ein Paar ist auch dabei. Die Akteure agieren entschlossen, aber nicht fanatisch. Eine Leerstelle: die Motivation der Gruppe.
Um 19.15 Uhr explodieren an vier Orten in Paris gleichzeitig Sprengsätze. Zuvor hat es bereits mehrere Tote gegeben. Auch das weitere Vorgehen ist genau geplant. Die Gruppe lässt sich in einem Nobelkaufhaus einschließen, dass auch – wie geplant – aus Sicherheitsgründen evakuiert wird. Jetzt gilt es die Nacht auszuharren, um am nächsten Morgen unerkannt in das alte Leben abzutauchen.
Von dieser Wartezeit erzählt der zweite, längere Teil von „Nocturama“. Der Plan ist genial, aber auch perfide – für unser Bild für die terroristischen jungen Leute, die geradezu höhnisch darauf hingewiesen werden, dass sie genauso sportlich gekleidet sind wie die Schaufensterpuppen des Kaufhauses. Waren die zuvor gezeigten Bewegungen im Raum scharf und zielorientiert, so werden sie jetzt zu einem ziellosen Flanieren durch die Gänge und Stockwerke des Kaufhauses. Immerhin: man erkennt seine Lieblingskosmetika wieder, checkt ein paar Kleidungsstücke und die neueste, unbezahlbare High-end-Anlage von B&O aus, speist kostspielig zur Nacht und lädt sich als Gäste ein Clochard-Paar ein. Das Kaufhaus ist eine Monade des Luxus: keine Fenster, kein Netz, schallisoliert. Erst nach 22 Uhr kommt jemand auf die Idee, die Flatscreens in der Medienabteilung anzuschalten. Emotionslos stellt einer der Akteure angesichts der Fernsehbilder fest: „Krass, dass in echt zu sehen.“ Ein anderer Akteur wird später via Karaoke-Maschine seine ganz persönliche Version von „My Way“ performen. Ist das als Sarkasmus zu verstehen? Oder ist „Nocturama“ selbst Karaoke? Es war zu lesen, dass Bertrand Bonellos siebter Spielfilm, dessen Drehbuch bereits 2011 geschrieben wurde, ursprünglich „Paris est une fete“ heißen sollte, was nach den Anschlägen vom November 2016 mindestens frivol, wahrscheinlich aber als zynisch wahrgenommen worden wäre.
Nachdem sich Bonello in früheren Filmen auf höchst reflektierte und anspielungsreiche Weise mit Dienstleistungen, die historischem Wandel unterworfen sind, wie der Pornografie, der Prostitution und der Mode auseinandersetzt hat, so nimmt er mit „Nocturama“ einen Faden aus „Der Pornograph“ (2001) wieder auf. Damals traf der gealterte Porno-Filmer Jacques auf seinen Sohn Joseph, der sich einer politisch radikalen Jugendgruppe angeschlossen hat, die versucht, der Libertinage der 68er durch moralischen Rigorismus zu begegnen. Die vorgeschlagene Strategie: Schweigen als ultimativer Protest, keine Zugeständnisse und keine Gegenvorschläge dem politischen System, das sich seines Gegenübers nur mittels kursierender Bilder versichert. „Nocturama“ präsentiert jetzt eine Radikalisierung dieser Strategie. Ein terroristischer Anschlag als Botschaft ohne Inhalt. Eine surrealistische Geste als Bedingung der Möglichkeit der Revolte, jenseits tagesaktueller Zuschreibungen. Als einer der Akteure zum Rauchen das Kaufhaus verlässt, trifft er draußen auf eine junge Frau mit einem Fahrrad, die etwas kryptisch davon spricht, dass etwas passieren musste und dass es jetzt passiert sei. Dieser Gedanke erinnert an eine Überlegung von Jean-Francois Lyotard zum Erhabenen. Lyotard hält fest: „Es handelt sich nicht um die Frage nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen, was geschieht, oder was das bedeutet. Bevor man fragt: was ist das?, was bedeutet das?, vor dem quid, ist »zunächst« sozusagen erfordert, dass es geschieht, quod. Denn dass es geschieht: das ist die Frage als Ereignis.“ „Nocturama“ geht es genau um diese surrealistische Qualität des Jetzt, weshalb auch die geloopten Bilder der Fernsehberichterstattung über die Anschläge exakt die bereits gezeigten Filmbilder sind, die ja logisch nur die Erwartung der Täter einlösten, während alle anderen überrascht wurden. Mit der Tat haben die Täter ihre Mission erfüllt, nach der Einsicht „Wir werden sterben!“ besteht der Rest der Nacht im Warten auf das Eintreffen der Einsatzkommandos der Polizei. Bonello bezieht sich auch im Falle von „Nocturama“ wieder explizit auf Vorbilder der Filmgeschichte wie Bresson („Der Teufel möglicherweise“), Fassbinder („Die dritte Generation“), Romero („Zombie“), Clarke („Elephant“) oder Kubrick („The Shining“), aber der Filmtitel selbst ist eben nicht nur ein Albumtitel von Nick Cave, sondern auch eine bestimme Käfiganlage zur Präsentation nachtaktiver Tiere im Zoo. Wem diese Pointe nicht böse genug ist, dem sei noch verraten: war die Botschaft der Jugend das reine Ereignis, so fällt die Antwort der Exekutive entsprechend aus. Keine weiteren Fragen, keine Gefangenen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret
Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.