Vehement hat sich die abendländische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gegen die Melancholie und die ihr Verfallenen zur Wehr gesetzt. Saturn war mitsamt seinen Ringen derjenige Planet, den es geradezu vom Firmament zu stoßen galt, wurde ihm doch nachgesagt, für die weltabgewandte Trauer der Melancholiker verantwortlich zu sein, die auf fernen Bahnen die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften mehr zu umkreisen als an ihnen teilzuhaben schienen. Wen nichts froh zu machen, kein Strahlen der göttlichen Schöpfung in Jubel und kein Heilsversprechen in ruhende Gewissheit zu versetzen schien, der machte sich der Ketzerei verdächtig, war ein Fremder am Rande der etablierten Ordnungen. Wie der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schon vor über 20 Jahren in „Natur und Subjekt“ zeigte, ziehen auch hier die Exklusionsmechanismen der europäischen Aufklärung mit denen des Mittelalters zumindest gleich. Als „melancholisch“ wurden die Gegner der Aufklärung reihum beschrieben und mit ihnen wurde auch die Melancholie selbst mit neuen „Begleiterscheinungen“ aufgeladen: Misanthropie, Geiz, Boshaftigkeit und Melancholie wurden zu verschiedenen Seiten derselben „kranken“ Persönlichkeit. Der Melancholiker wohnte in einer unheimlichen Schattenzone, die vom Licht der Sonne der Vernunft nicht erreicht wurde. In diesem entlegenen Gebiet jenseits ihrer eigenen Toleranzgrenzen bringt die Aufklärung so jene an den Pranger, denen der Schmerz und die verzweifelte Einsicht in die Allvergänglichkeit – unfreiwillig – zum Prinzip geworden ist. An die Stelle der Verurteilung des Melancholikers für seine trauernde Missachtung der Schöpfung tritt nun die moralische Anklage, sich willentlich aus dem Hauptprojekt der Vernunft herauszuhalten.
Lars von Trier, der – neben Terrence Malick – wohl eloquenteste Vertreter einer filmischen Gegenaufklärung, hat nun die Geschichte der Melancholie als Sünde, Absage an den Vernunftglauben und Krankheit zu einem neuen Film verdichtet und sie auf großartige Weise zu ihrem zweiten, fast vergessenen Traditionsstrang hin geöffnet: Als „melancholia generosa“ der Produktivität und tiefsten Einsichten in schwierige Wahrheiten bekommt die Melancholie hier eine positive Konnotation zurück, die am Rande zur letzten Verzweiflung, zum Wahnsinn gar, erstritten werden muss. Sein Film, der gleich zu Beginn Pieter Brueghels des Älteren glücklos heimkehrende Jäger („Die Jäger im Schnee“, 1565) leinwandfüllend in Flammen aufgehen und anschließend einen Totentanz der lustvollsten Farben, ja fast schon überparfümierten Schönheit feiern lässt, weiß, dass das Wesen dieses Streits zwar ein „Sein zum Tode“, sein Feld aber das blühende Leben ist.
Justine heiratet. Die riesige Limousine mit ihr und dem Bräutigam Michael schafft kaum die Kurven, die zum höchstherrschaftlichen Landsitz ihrer Schwester Claire und deren Mann John führen. Die hierdurch entstandene Unordnung und das abwechselnde Sichversuchen am Steuer machen Justine Freude. Am Ort der Hochzeit – die Männer im Frack, am Eingang eine Lotterie, der „wedding planner“ ein Pedant der Pünktlichkeit – ist für derartige Strukturlosigkeit kein Platz. Reden werden gehalten, es wird getanzt, getrunken, Kuchen angeschnitten. Justine zieht sich zurück, die leeren Rituale des Abends werden ihr zur Qual. Sie verweigert den Vollzug der Hochzeitsnacht, kündigt noch auf der Party ihren Job. Der Bräutigam reist ab, die Mutter ist ein erkaltetes Wrack, der Vater ein Wirrkopf. Am Ende der Nacht bleibt Justine in desolatem Zustand bei Schwester, Schwager und deren kleinem Sohn zurück. Lars von Trier zeigt ihren Verfall, wie sie sich nicht mehr eigenständig waschen, kaum noch die Gabel beim Essen halten kann. Und draußen zieht „Melancholia“ auf: Ein Planet, zehnmal so groß wie die Erde, der sich bislang hinter der Sonne verborgen hatte, und möglicherweise mit dem blauen Planeten auf Kollisionskurs ist.
Justine ist für Lars von Trier nicht bloß die Melancholikerin par excellence, sondern es lässt sich an ihr, an ihrem Körper eine Geschichte der Melancholie im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Technik vollziehen. Dabei greift von Trier explizit auf Motive der deutschen und britischen romantischen Tradition zurück: In unzweifelhafter Anspielung an die Ophelia-Darstellungen der präraffaelitischen Maler Millais und Waterhouse treibt eine blumenbekränzte Kirsten Dunst als Justine in einer gewaltigen Anfangssequenz auf einem Bach. Shakespeares Ophelia, die über dem Tod ihres Vaters singend und dichtend wahnsinnige gewordene, ist ein Inbegriff „schöner“, unrettbarer Melancholie. Als ginge es aus ihr hervor, durchströmt den Film, zehnfach wieder einsetzend, das Vorspiel aus Wagners „Tristan und Isolde“. Hier, in der beispiellos radikalen Beschwörung der ewigen Todesnacht als einzigem Ort, an dem die Liebesumrauschten „ungetrennt, ewig einig, ohne End‘, ohn‘ Erwachen, ohn‘ Erbangen“ sein können, findet Justine/Ophelia ihre Entsprechung. Später wird Claire ihre depressive Schwester nachts auf dem Gelände des Anwesens vorfinden, wie sie nackt im Licht des fremden Planeten badet: Eine melancholische Kassandra, die das Unheil hinter der Sonne hervorzuziehen scheint.
All das kommt dem Abgrund gefälligen Hochglanzkitsches sehr nah und würde ihn auch überschreiten, wären für von Trier diese Verweise nicht untrüglich Pfeile in den Tod und – in radikal melancholischer Behauptung – auf Geschichte als Verfallsprozess: Was hier aufleuchtet, wird zu Asche werden und dem Vergessen anheimfallen; wird brennen, wie der Brueghel zu Beginn. Die melancholische Kunst ist eine Überlebenshilfe herrlicher Schönheit gegenüber dem Unmaß an Leid – nicht mehr und nicht weniger. Bei von Trier wird sie gefeiert und erbarmungslos zertrümmert. Und so ist diese Ophelia eben in Wahrheit eine Justine, die im Hochzeitskleid auf den Boden des Golfplatzes pinkelt und einen jungen Arbeitskollegen aus den Reihen der Partygäste – am selben Ort und im selben Kleid – geradezu vergewaltigt: Melancholie in der (Post-)Moderne ist kein nobles Leiden stiller, trauerversunkener Erhabenheit, sondern gegebenenfalls eine verwirrte, vor Furcht gelähmte Frau, die in die Badewanne getragen werden muss.
Die so als Krankheit, als Depression verstandene Melancholie wird behandelbar. Dementsprechend kümmert sich auch Claire um ihre Schwester, füttert sie, wäscht sie, erträgt ihre Aggressionen und sehnsüchtigen Untergangsphantasien, ihren Hass auf das Menschengeschlecht („Niemand wird um uns trauern, wenn wir fort sind.“). Dabei muss sie selbst beruhigt werden: Der am Horizont heraufziehende Planet bereitet ihr panische Angst, obgleich ihr Mann John, Repräsentant einer kühl-rationalen Wissenschaftsgläubigkeit, sie von dessen Ungefährlichkeit überzeugen will – ein spektakulärer Vorbeiflug erwarte sie alle, keineswegs der Weltuntergang. Claire kauft trotzdem Pillen, die im Falle der sich anbahnenden Katastrophe einen selbstwählbaren Todeszeitpunkt ermöglichen sollen. An einem Ende, dessen Wurf hier nicht verraten sei, in dem jedoch Schönheitsrausch und Zertrümmerungswut auf atemraubende (und wie könnte es anders sein: bis an die Schmerzgrenze ohrenbetäubende) Weise zusammenprallen, wird sich eine ruhige Hand der Melancholikern der zitternden Hand ihrer Schwester öffnen. Was das Philosophieren seit dem Phaidon-Dialog ermöglichen will (und wohl nicht kann), ist dem Melancholiker stete Übung: Sterben lernen.