Es ist schon fantastisch, wie dieser Film einen immer wieder neu zu fesseln vermag. Der Franzose und Mitbegründer der Nouvelle Vague Louis Malle, Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Fahrstuhl zum Schaffott' (1957), „Zazie' (1960), „Das Irrlicht' (1963), „Herzflimmern' (1970), „Gottes eigenes Land' (1979) oder „Auf Wiedersehen, Kinder' (1987), hat merkwürdigerweise mit einem ganz unfilmischen Film demonstriert, welche Möglichkeiten stecken in der Methode Film und welche Gedankenwelten in ihm selbst.
Wobei schon da die Fragerei anfängt, die „Mein Essen mit Andrè' (1981) schier unermüdlich produziert, denn der Film wurde von Malle ja 'nur' gedreht, und von André Gregory, einem New Yorker Theaterregisseur und Wallace Shawn, einem New Yorker Bühnenautor und Schauspieler, gemeinsam geschrieben.
Laut Aussagen von Gregory (im Bonusmaterial der DVD) gab es tatsächlich zuerst ein Script von buchstäblich an die 5000 Seiten, welches aus langen, auf Tonband aufgezeichneten Gesprächen zwischen den beiden befreundeten Männern entstanden war, lange bevor es einen Regisseur zum Film gab. Für die endgültigen Aufnahmen im Film wurde dann schließlich ein auf zwei Stunden gekürzter Text „sehr intensiv“ geprobt, so dass alles, was hier wie ein frei improvisiertes Gespräch zwischen zwei real existierenden Personen über ihre real existierenden Biografien erscheint, in Wahrheit das Ergebnis wochenlanger Vorarbeit ist.
Über ihr Leben reden Wallace und André, und weil sie ihre Existenz – und unmittelbar damit verknüpft ihre Arbeit – nicht als etwas von der Gesellschaft Losgelöstes verstehen, ist ein Gespräch über ihre persönlichen Konflikte, Erfahrungen, Ziele und Hoffnungen für sie auch ein Gespräch über das Sein in der Gegenwart (von 1980).
Eingerahmt ist der Dialog durch die Anfahrt und den Nachhauseweg von Wallace Shawn, der im Off kommentiert, warum er mit gemischten Gefühlen und angespannt zu der Verabredung mit dem, wie er gehört hat, in letzter Zeit sehr labilen André unterwegs ist. Aus Wallaces Perspektive also wird das Treffen in einem edlen New Yorker Restaurant gezeigt, der zunächst dem Zuschauer schildert, mit welchen Mühen sein – eher erfolgloses – Dasein als Autor und Kleindarsteller verbunden ist. Als ein Mensch mit geregeltem Tagesablauf und mit seinem unauffälligen Äußeren – er ist klein, etwas untersetzt und hat mit 35 Jahren bereits eine Halbglatze – entspricht er so gar nicht dem Klischees des Künstlers, welches der ältere André dagegen mehr als ausfüllt: André ist ein buchstäblicher Lebemann; in dem Sinne, dass er das Leben in allen seinen Ausprägungen schon lange über seine Arbeit als Regisseur gestellt hat, aber was für ein Leben…
Für mehr als zwei Drittel des Films nimmt sich André die Zeit, spannend, unterhaltsam, aber auch verwirrt über seine Versuche zu berichten, Konventionen zu überwinden, zunächst Konventionen des Theaters. Lebendiges Theater kann für ihn kaum mehr auf einer Bühne stattfinden, selbst Sprache ist ihm zu viel Begrenzung, so dass er in Polen mit 40 nicht englisch sprechenden Frauen, die eigentlich nicht Theater spielen wollen, eine 20-stündige Improvisation in einem Wald „inszeniert“ hat, eine Inszenierung ohne Regie. Seine Maxime, Dinge nur aus der Situation selbst heraus entstehen zu lassen, sein rigoroser Freiheitsdrang, spiegelt sich auch in seinem Privatleben. Obwohl er verheiratet ist und Kinder hat, verlässt er häufig seine Familie, etwa um ein halbes Jahr in der Wüste oder in Indien zu meditieren, oder die Welt vom Gipfel des Mount Everest aus zu betrachten. Sein Leben ist ein unaufhörliches Selbsterfahrungsprojekt bzw. eine nie endende Suche nach einem existenziellen Sinn. Diese Suche, die durch seine radikale Ablehnung bestehender Normen konsequenterweise immer dominanter geworden ist, hat André immer mehr zur Mystik, zur Esoterik und zu einem Glauben an Übersinnliches, in eine verklausulierte Welt jenseits einer vernünftigen Realität geführt, schließlich an den Rand des Wahnsinns. Denn André hat Halluzinationen, ihm sprechen Fabeltiere Mut zu, die außer ihm kein anderer sieht.
Um es noch einmal klarzustellen: Der Film zeigt tatsächlich fast nur den (erschrockenen, deshalb nach vorn ins Interesse flüchtenden) Wallace und meistens sein Gegenüber am Tisch, den ziemlich mitgenommenen André der mit fiebrigen Augen über sein Leben erzählt, es gibt keine visualisierenden Rückblenden, keine szenische Aufbereitung von Andrés Erinnerung. Und trotzdem ist der Film spannend. Trotzdem, vielleicht gerade deshalb, entsteht vorm geistigen Auge des Betrachters eine Welt, ein Leben, ein Mensch.
Wie oft nehmen wir uns schon die Zeit, Menschen, mit denen wir zu tun haben, genau zu betrachten, sie erzählen zu lassen, sie auf uns wirken zu lassen. „Mein Essen mit André“ nötigt uns dazu, einem Fremden zuzuhören, ist, so gesehen, auch eine Art Wahrnehmungsschule – aber auch der Beweis dafür, dass charismatische, exaltierte, manische Leute, weil sie ein Publikum brauchen, eines bekommen können.
André interessiert sich kaum für Wallace, er hört ihm höflich zu, wenn der, eher stammelnd, seinen einfachen Lebenssinn zu beschreiben versucht: Die Vorfreude auf eine Tasse kalten Kaffees, die ihn am Morgen erwartet, die ganze Nacht über bedeckt mit einer Untertasse, damit keine Fliegen herein geraten. Und eine neue elektrische Heizdecke, die in der kalten New Yorker Wohnung ein wahrer Segen für ihn und seine Frau ist, und ihm so merkwürdig schöne Träume beschert. Und die Autobiographie von Charlton Heston (Wir schreiben 1980 und Heston ist noch nicht Präsident der US-Waffenlobby). Außer seiner Arbeit gibt es nicht viel mehr in Wallaces Leben, aber er scheint damit glücklich sein zu können. Ja, er betont, wie zufrieden ihn die kleinen Dinge des Lebens machen.
Die Verschiedenheit beider Protagonisten ist es, die den Film zu einem Abenteuer macht. Auf der einen Seite der nonkonformistische Sucher, der Aktionist, der Ruhelose. Auf der anderen der bürgerliche, bescheidene Familienmensch. Beide treffen sich in ihrer Eigenschaft als Künstler, Theaterleute, und als Intellektuelle. Und beide stimmen darin überein, dass etwas mit den Menschen nicht mehr stimmt. André zitiert Foucault: „New York ist ein Überwachungslager.“ Und er erläutert – ganz im Foucaultschen Sinn – : „Die Individuen wollen sich überwachen lassen.“ Eine Zombiewelt. Für André ist es höchste Zeit zur Flucht in abgeschiedene esoterische Klöster, in denen man plant, den UFOs, wenn sie kommen, zu signalisieren: Hier, in dieser Enklave, gibt es noch richtige Menschen. André ist ein manischer Apokalyptiker; eigentlich trägt er seinen individuellen Untergang immer bei sich. Wenn es langweilig wird, holt er ihn heraus und legt ihn auf den Tisch. Deshalb wird es nicht langweilig mit ihm. Der Mann ist reines Theater. Und dazu ist er eine Fusion aus dem, was von der Hippiebewegung und einer linken, antiautoritären Kultur am Ende der Siebziger übrig war. Die radikale Ablehnung aller gesellschaftlicher Normen hat ihn orientierungslos werden lassen, die Werte seiner Gegenwelt: radikale Selbsterfahrungstrips, Mystizismen, esoterische Ersatzreligionen haben ihn einer funktionierenden Kritikfähigkeit beraubt und seine Wahrnehmung getrübt. Er ist unfähig zu einer emotionalen Distanz gegenüber der Außenwelt geworden. Dennoch hat seine radikale Naivität, seine verwirrte Depressivität etwas Charmantes, Bezwingendes, Wahrhaftiges. Seine verzweifelte Suche nach Antworten hebt ihn positiv ab vom Durchschnittsmenschen, der alles mitmacht, ohne zu wissen oder zu fragen warum. Vielleicht ist ja Andrés Problem nur, dass er immer das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat.
Wallace wendet höflich ein: „Wenn du mitbekommen würdest, was dort drüben geschieht, in dem Zigarrenladen gegenüber vom Restaurant – es würde dich förmlich umhauen – da ist genau so viel Realität wie auf dem Mount Everest.“
Gehen wir mal davon aus, dass Paul Auster „Mein Essen mit André“ kennt. Wenn nicht, scheint das mit den New Yorker Zigarrenläden zu stimmen, denn der Film „Smoke' (1995) von Wayne Wang nach dem Buch von Auster setzt genau Wallaces Idee um, das Universum in einen Zigarrenladen zu verlegen. Nicht nur deshalb ist „Mein Essen mit André“ auch einer dieser magischen Filme über die Stadt New York, von der man im Film nicht viel sieht, aber spürt; ein Film über das New York, also auch über eine US-Wirklichkeit, zu Beginn der achtziger Jahre, ein Film über die Rolle der Kunst, ein Film über zwei Individuen, über deren Standortbestimmungen in ihrer Zeit, einer Zeit, die über ein Vierteljahrhundert vergangen ist, aber deren Hauptfrage – fast tröstlicherweise – scheinbar immer noch dieselbe geblieben ist: Ist das, was wir unsere Zivilisation nennen, nur noch eine entfremdete Produktionsmaschine auf dem Weg in ein Nichts?
Tiefer gehend aber, hinter dem ganzen Theater, stehen die Fragen: Was sind wir, was können wir tun, was bleibt von uns? Dass die uralte menschliche Ratlosigkeit bei André und Wallace immer mit am Tisch sitzt, dass der Film uns immer in seine Fragen einbezieht, dabei aber keine Antworten diktiert, macht ihn lebendig und zeitlos und deshalb zu einem Juwel.
Zur DVD:
Auf einer schön gestalteten DVD, die nun von www.pierrotlefou.de auf den Markt gebracht wird, befinden sich zusätzlich zum Film zwei offenbar später geführte erhellende Interviews mit den beiden Protagonisten in englischer Sprache, die leider nicht mit deutschen Untertiteln versehen sind, aber durch das vorbildlich gesprochene Englisch auch für den Normalverbraucher verstehbar sind. Wer diese Interviews zu welchem Zeitpunkt gemacht hat, ist leider nicht auf der DVD vermerkt.