„Nichts Politisches!“ So lautet die strikte Anweisung der Gefängnisaufseher. Bei den seltenen, kurzen und streng überwachten Besuchen des inhaftierten Nelson Mandela (Idris Elba) von seiner Frau Winnie (Naomie Harris), später auch seiner Töchter, soll über Persönliches, Familiäres geredet werden, nicht über Politik. Dass die Schergen eines rassistischen Unrechtsstaats kein Interesse daran haben, dass sich ein eingekerkerter Freiheitskämpfer mit seinen ebenfalls politisch aktiven Angehörigen über gesellschaftliche Entwicklungen unterhält, leuchtet wohl ohne Weiteres ein. Warum aber scheint sich auch der britisch-südafrikanische Blockbuster, der jetzt die Lebensgeschichte des im vergangenen Jahr verstorbenen Nelson Rolihlahla Mandelas in epischen zweieinhalb Stunden erzählt, über weite Strecken an diesen Maulkorb zu halten? Warum erzählt er über einen Mann, der die berühmt gewordenen Sätze sagte: „Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen“, mit geradezu bemerkenswertem Desinteresse für die politischen Hintergründe und Zusammenhänge dessen, wofür und wogegen er kämpfte?
„Mandela – Long Walk to Freedom“ beginnt mit einem Traum, den das Voice-Over in seiner Kindheit verortet. Geradezu paradiesische Bilder von Feldern, von einem lichtdurchfluteten Haus voller glücklicher Menschen. Danach kommt das Initiationsritual, das aus dem Jungen einen Mann machen soll, wobei ihm übrigens auch von der Verantwortung gesprochen wird, die ein Mann gegenüber seinem Volk hat. (Warum eigentlich – das ist keine rhetorische Frage, ich versteh’s wirklich nicht – traut sich der Film nicht mal anzudeuten, dass dieses Ritual in einer, traditionell mit einem Speer durchgeführten, Beschneidung besteht? Macht sich das südafrikanische Tourismus-Ministerium, das den Film mitfinanzierte, was man diesem übrigens deutlich ansieht, Sorge um sein Afrika-Bild?) Interessanter als das, was der Film zeigt, ist schon hier das, was er auslässt. Von der Uni an der ländlichen Transkei flüchtete Mandela mit einem gleichaltrigen Mitstreiter in die boomende Metropole Johannesburg, weil die beiden ohne ihre Einwilligung aber gemäß der herrschenden Tradition verheiratet werden sollten. Mandela wird später über diese Episode schreiben: „Während ich nicht daran dachte, das politische System des weißen Mannes zu bekämpfen, war ich durchaus bereit, gegen das soziale System meines eigenen Volkes zu rebellieren.“ Natürlich muss ein Film, der weit über fünfzig Jahre erzählte Zeit in 150 Minuten Erzählzeit packt, sein Material sorgsam auswählen. Es wird jedoch schon hier deutlich, dass diese Sorgsamkeit für die Filmemacher bedeutet, die Geschichte gründlich von Ambivalenzen zu befreien. Nur wird man der komplexen historischen Situation eines Landes wie Südafrika mit Schwarz-Weiß-Malerei (die vielleicht politisch korrekter, aber kaum klüger wird, weil sie sich nicht mehr auf Hautfarben bezieht) auf diese Art nicht annähernd gerecht. Von der Perfidie des Apartheid-Regimes, das etwa in seiner Homeland-Politik gerade die scheinbare Stärkung und Autonomie afrikanischer Stammesstrukturen und -hierarchien zur Spaltung und Unterwerfung der schwarzen Bevölkerung nutzte, ganz zu schweigen.
Zurück zum Film: Der springt mit einem Schnitt direkt von der Initiation ins Johannesburg des Jahres 1942. Mandela ist nun ein ambitionierter junger Anwalt, der jede Menge Erfolg bei den Frauen hat, aber auch im Beruf so viel, wie ein Schwarzer im Südafrika der vierziger Jahre nur haben konnte. Wenn er einmal wohlhabender und besser gekleidet sei als sie, dann werden ihn die Weißen schon respektieren, sagt er. Im Gerichtssaal stellt er die rassistische Bigotterie älterer weißer Damen bloß. Im Privatleben hat er für die herrschaftliche Politik zur „Reinhaltung der Rassen“ auch schon mal einen Scherz übrig. Wenn der Bleistift sowohl in seinem Haar als auch in dem seiner etwas hellhäutigeren Disko-Bekanntschaft stecken bleibt, gehören sie wohl derselben „Rasse“ an – womit nichts dagegen spricht, dass sie gemeinsam nach Hause gehen. Das Lachen vergeht ihm aber, als Polizisten einen Freund von ihm totprügeln, weil er keinen Ausweis dabei hat. Mandela schließt sich dem afrikanischen Nationalkongress (ANC) an. Doch während ihres friedlichen legalen Widerstands wird alles nur noch schlimmer, die Gesetze zur Trennung der Rassen immer strikter, die staatliche Repression immer brutaler. Als schließlich 1960 in Sophiatown die Polizei das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffnet, hunderte Menschen verletzt und 69 tötet, die meisten von ihnen durch Schüsse in den Rücken, entschließt Mandela sich zum militanten Kampf. Er geht in den Untergrund, wird verhaftet und mit seinen Mitstreitern zu lebenslanger Haft verurteilt.
Regisseur Justin Chadwick bekundete seine Absicht, sich auf den „Menschen Mandela“ zu konzentrieren. Was damit gemeint ist, aber auch wie grundfalsch dieses Konzept ist, wie sehr der Fisch vom Kopf her stinkt, wird wohl am deutlichsten in der Darstellung von Mandelas beiden Ehen. Seine erste Frau verlässt ihn relativ schnell, weil er die Familie zugunsten seines politischen Engagements vernachlässigt. Weil er, so sagt sie einmal, sich um alle Kinder Südafrikas kümmert, außer um seine eigenen. Das Verhältnis zu Winnie gestaltet sich komplizierter. Während in ihm während seines knapp 30-jährigen Gefängnisaufenthaltes mehr und mehr die Erkenntnis reift, dass man aus der Spirale der Gewalt einen Ausweg finden, dass die Freiheit mit demokratischen, nicht mit militärischen Mitteln erkämpft werden muss, wird sie immer militanter. In der ersten Ehe wird also der Konflikt zwischen Privatleben und Politik auf eine gängige Genre-Erzählung heruntergebrochen (denken wir an die Phalanx von Polizisten-Gattinnen, die im Kino am Job ihres Mannes verzweifeln). In der zweiten hingegen werden die ideologischen Grabenkämpfe, die die südafrikanische – wiewohl fast jede andere – Widerstandsbewegung spalteten, in einer Dichotomie von friedlichem versus bewaffnetem Widerstand aufgelöst. Hinter der sich dann natürlich hollywoodgerecht nichts weiter verbirgt, als der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass, die ja – oh, göttliche Psychologie! – in jedem Menschen wohnen.
Wenn es den Filmemachern tatsächlich darum ging, Mandela als „ganz normalen Mann“ darzustellen, ihn aus den Geschichtsbüchern von den Denkmalsockeln zu holen, wie es das Presseheft ein ums andere Mal verkündet, dann ist ihr Scheitern so kolossal, dass man es tatsächlich nur bewundern kann. Die Art, wie historische Ereignisse (die offizielle Einführung der Apartheid 1948, das Massaker von Sophiatown, die zunehmende Instabilität und Gewalt in den Achtzigern) in kurzen Schlaglichtern dramatisiert werden, auf die Mandela dann reagieren muss, suggeriert geradezu den Eindruck eines Mannes, der Schach mit der Geschichte spielt. So sieht er also aus, der ganz normale Mandela.
Damit soll nicht gesagt sein, dass dieses Scheitern nur eine Sache des Inhalts wäre. Es findet in der Form seine perfekte Entsprechung. Wie „persönlich“ kann sich ein Film einer Figur nähern, dem zu den Vierzigern nichts weiter einfällt, als der Chic zeitgenössischer Anzüge und der glänzende Lack zeitgenössischer Limousinen? Zu einem beginnenden Gefängnisaufenthalt nicht mehr, als einen Mann durch Gitterstäbe zu filmen, der in einer finsteren feuchten Zelle Liegestütze macht? Der, kurz gesagt, an keiner Stelle auch nur den Versuch erkennen lässt, über den gängigen period picture-und Biopic-Hochglanz-Bilder-Brei irgendwie hinauszugehen?
Am deutlichsten wird das ästhetische Scheitern des Films, wenn er die explodierende Gewalt in den Achtzigern zeigt. Demonstrationen, Straßenschlachten, blutige und verstümmelte Leichen. Dazwischen: Nachrichtenbilder, Bilder des vollen Wembley-Stadions, das „Free Nelson Mandela“ singt. Dazu: Bob Marley, Public Enemy. Willkommen in der Bild- und Klang-Welt der internationalen medialen „Revolutions“-Folklore. Ganz schön aufregend hier, nervenaufreibend, aber zum Glück für uns westliche Zuschauer, die das alles wohl hauptsächlich aus Film und Fernsehen kennen, auch irgendwie wieder beruhigend weit weg. „The Revolution Will Not Be Televised“? Von wegen! Ach, würde der Film doch auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, in welche Widersprüche er sich verstrickt, wie aalglatt er letztlich vom Chaos erzählt. Wie schrecklich vertraut gerade „uns“, hier, in der immer rigoroser abgeriegelten „Festung Europa“, diese (Fernseh-)Bilder sind. Stattdessen packt er die Pathoskeule aus, lässt sie über uns hinweg rollen wie den Wasserwerfer über die Barrikaden.
Die zunehmende Brutalität einiger schwarzer Gruppierungen thematisiert der Film auch, etwa in den schwarzen Lynchmobs, die ab Mitte der Achtziger „Kollaborateure“ des Regimes ermordeten, etwa durch das „necklacing“, bei dem einem Menschen ein mit Benzin gefüllter Autoreifen um den Hals gelegt und anschließend angezündet wird. Gerade da aber, wo der Film Ambivalenzen aufzubauen versucht, offenbart sich die ganze Dummheit seines gut gemeinten Liberalismus. Unmenschlichkeit mit Unmenschlichkeit zu bekämpfen, ist also falsch. Wer das schon vorher ahnte, der darf sich jetzt bestätigt fühlen und sich beruhigt selbst auf die Schulter klopfen. Bei der Verhandlung mit der Regierung über seine Freilassung sagt Mandela, man müsse aus der Spirale des Hasses aussteigen, weil der Hass zu Angst führe, die die Menschen zu Gefangenen mache. Für die psychologische Seite des Rassismus mag das zutreffen. Der echte Mandela kannte aber auch eine andere – mindestens – genauso wichtige Seite: Die ökonomische. Rassismus mag zum einen in der Angst vor dem Fremden, dem „Anderen“ begründet liegen. Darüber hinaus ist er jedoch vor allem ein Herrschaftsinstrument, das Hierarchien schafft und aufrechterhält. In kolonialistischen Projekten bietet er den ideologischen Unterbau, weil es der Annahme von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Menschen bedarf, um zu rechtfertigen, dass die einen die anderen versklaven, unterwerfen, ausbeuten oder ermorden, um sich ihrer Länder und Bodenschätze zu bemächtigen. Die Apartheid war nicht einfach nur ein zum Himmel schreiendes Unrecht, sie war auch ein verdammt lukratives Geschäft – für die weißen südafrikanischen Eliten genauso wie für skrupellose, internationale Großkonzerne. (Und dass sie auch, aber eben nicht nur auf Grund des wachsenden Protests im In – und Ausland irgendwann aufhörte lukrativ zu sein, um sich in das genaue Gegenteil zu verwandeln, war auch der Anfang ihres Endes.) Dafür interessiert sich der Film allerdings nicht die Bohne.
Idris Elba (Freunden des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens wohl vor allem als Drogendealer Stringer Bell aus der Serie „The Wire“ bekannt) ist ein ebenso charismatischer wie begnadeter Schauspieler, der auch hier zeigt, was er kann. Durchaus eine Idealbesetzung, was einen grundfalschen Film aber leider auch nicht richtiger macht. Lobend seien auch die Maskenbildner erwähnt, die dafür sorgen, dass wir ihm den Anfang Zwanzigjährigen ebenso abnehmen, wie den Anfang Siebzigjährigen am Schluss.
Regisseur Chadwick sagt: „ ‚Mandela – The Long Walk to Freedom‘ ist ein Film über den Kampf und der dauert bis heute an. Er beeinflusst bis heute jeden einzelnen Menschen dort.“ Dass das Unrecht und der Kampf in Südafrika nicht durch das Ende der Apartheid und die Wahl Mandelas zum ersten schwarzen Präsidenten abgeschafft waren, mit denen der Film endet, ist ja – wenn auch etwas trivial – sicherlich richtig. Nur, was tut der Film, um diese Wahrheit zu bebildern? Er lässt den befreiten Befreier gemeinsam mit glücklichen Kindern im Freudentaumel durch die wunderschönen Weiten der afrikanischen Savanne rennen. Er lässt die Kamera in der letzten Einstellung gen Himmel fliegen. Das verstehe nun, wer wolle. Ich bin raus. Mir ist das einfach zu hoch.