„Do you know where your children are?“, fragt vielleicht etwas zu aufdringlich die TV-Texttafel die schlafende Mutter auf der Couch. Wo sollte ihr 12jähriger Sohn Owen schon sein? In diesem farblosen Ort Los Alamos in New Mexico, dessen Tristesse der andauernde Schneematsch allenfalls akzentuieren, jedenfalls nicht weiter verschlimmern kann, sitzt er regelmäßig allein in einem schäbigen Hinterhof auf einem nicht minder schäbigen Klettergerüst und lernt, dass die Welt zum Fürchten ist.
Es ist 1983 und mit Furcht kennt man sich aus. Im Fernsehen agitiert Ronald Reagan in seiner berüchtigten Rede gegen das Reich des Bösen und meint den Russen. Auf dem Hinterhof sticht Owen (Kodi Smit-McPhee) mit seinem Taschenmesser drohend auf einen Baumstamm ein und meint seine Mitschüler. Die Drangsal, der der schüchterne Junge jeden Tag aufs Neue ausgesetzt ist, ist so allgegenwärtig, dass er abends mit einer Hockeymaske bekleidet vor dem Spiegel in seinem Zimmer den Serienkiller mimt oder mit einem Fernrohr vielleicht sogar eher ängstlich als neugierig die Nachbarn beobachtet. Das Reich des Bösen zumindest befindet sich direkt vor seiner Nase: Die geschiedenen Eltern sind entweder Stimmen aus dem Telefon oder Gestalten, deren Gesicht nie zu sehen ist, fast so, wie alle Erwachsenen bei den Peanuts. Der Lehrer übersieht die Qualen des Jungen geradezu stoisch, die Klassenkameraden sind Sadisten und im Radio stimmen orthodoxe Prediger auf das Fegefeuer ein. Hier braucht man das Andere nicht mehr zu fürchten, das das grundgute Leben ins Wanken bringen könnte – hier ist man sich längst selbst zum Anderen geworden.
Abby (Chloë Grace Moretz) jedenfalls, ein junges, manchmal unangenehm riechendes Mädchen, das eines Tages ebenfalls auf dem Klettergerüst sitzt, ist nicht bedrohlicher als der Rest dieser Welt, sondern für Owen schnell eine Verbündete, die sich mit ihrem eigenen Außenseiterstatus quälen muss. Barfuß sitzt sie da, weil ihr „eigentlich nie kalt ist“ und obwohl sie nicht befreundet sein können, wie Abby zu Beginn harsch klarstellt, verbringen sie immer mehr Zeit miteinander. Als er sie nach langem Zögern endlich fragt, ob sie seine Freundin sein möchte, verneint sie zuerst, weil sie kein Mädchen, sondern „nichts“ sei, was meint, dass bei ihr sowohl die Identitätskategorien als auch ihr Ich versagen, denn tatsächlich ist sie ein Vampir im Körper einer Zwölfjährigen.
Das alles könnte deshalb bekannt klingen, weil Regisseur Matt Reeves mit seinem zweiten Film nach der Found Footage-Monsterattacke „Cloverfield“ ein Remake des schwedischen Coming of Age-Vampirdramas „So finster die Nacht“ gedreht hat, seinerseits eine Literaturverfilmung des gleichnamigen Bestsellers von John Ajvide Lindqvist, die sich 2008 zu einem recht preisverwöhnten Geheimtipp entwickelte. Bis hin zu den Einstellungen folgt Reeves dem spröden Sozialrealismus des Originals. Es bleibt die zaghafte Liebesgeschichte zweier Outcasts, die sich finden müssen, um nicht unterzugehen, der das Drehbuch allerdings einen geringfügigen politischen Subtext andichtet.
Nachdem Owen leibhaftig Abbys Verwandlung in einen Vampir miterlebt hat – dabei wollte er nur einen harmlosen Blutspakt mit ihr schließen -, fragt er verstört den Vater am Telefon: „Gibt es das Böse?“ Der bejaht zumindest indirekt, weil er voller Wut aus der vermeintlich unschuldigen Frage nach den großen Pfeilern, die die Welt im Schlechten verbinden, die religiöse Indoktrination der Mutter herauszuhören glaubt. Was um die Kinder errichtet wird, ist die Hölle einer pervertierten Moral, die im Innern eine geistige Verelendung tradiert, derer sie sich gegenüber dem Außen erwehren will und wenn die Tonspur recht dauerhaft eine latente Paranoia erzeugt, dann kündet sie fast mehr von dieser gesellschaftlichen Qual der Isolation als von den genregültigen Spannungsformeln. Mit denen hält sich der Film ohnehin vornehm zurück, wenn er unter die monochromen Bilder der Schneelandschaften, der Wälder, Hinterhöfe und Schulen, in die die Figuren eher wie geduldete Fremdkörper platziert sind, ein paar Spezialeffekte mischt – dies jedoch dann blitzschnell, im Off, im Hintergrund oder aus weiter Ferne in ruhenden Einstellungen. Selbst ein Autounfall wird auf der Rückbank mit einer stehenden Kamera inszeniert, um die herum sich das Wageninnere überschlägt – treibende, visuell aber unspektakuläre Inserts, die die Lebensfeindlichkeit des Ortes nicht vergessen lassen.
Verursacher des Unfalls ist Abbys Freund und, so muss man wohl sagen, Ernährer (Richard Jenkins), mittlerweile ein alter Mann, der auf nächtlichen Streifzügen seine Opfer in einen Kanister ausbluten lässt. Um Abby zu schützen, verätzt er noch am Unfallort sein Gesicht mit Säure und entgeht im Krankenhaus den Fragen des misstrauischen Ermittlers, indem er sich von ihr töten lässt. Fortan ist auch zentrales Movens der jungen Beziehung, ob Owen sich als sein Nachfolger eignet. Dadurch stirbt allerdings auch die Ambivalenz der Vorlage. Wenn Abby Owen darin bestärkt, sich gegen seine Schulpeiniger mit aggressiven Mitteln zur Wehr zu setzen, dann testet sie damit sein Gewaltpotenzial. Aus der Annäherung zweier Außenseiter, die ihr Leid zusammenführt, wird eine unausgesprochene Bewährungsprobe. Dass die fortschreitenden Ermittlungen nun eine klassische Spannungskurve pitchen, befeuert nur den Eindruck, dass das zweckrationale Motiv dieses ungleichen Verhältnisses endgültig geklärt zu sein scheint. Abbys Massaker an Owens Schultyrannen besiegelt schließlich weitaus blutiger doch noch einen Pakt, dessen Tragweite indessen sie allein begreift. Mit gutem Willen offenbart sie sich da geradewegs als Kind ihrer Zeit. Ebenso aber auch als recht eindimensionaler Todesengel, dem bloß das Klischee der Femme fatale im Lolita-Look den melancholischen Blick ins Gesicht zaubert.