Die erste Szene. Am Flughafen. Zunächst vergeblich versucht eine Frau einen Mann, der an der Gepäckausgabe steht, auf sich aufmerksam zu machen. Sie sind getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Dass die in Schuss und Gegenschuss gefilmte Szene gerade keinen Dialog zeigt, sondern wie er verhindert wird, ist bezeichnend. Mit dem Außenvorsein der Frau ist der Zuschauer mitten drin in diesem Film, in dem es um die Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren und ihre Folgen gehen wird. Dabei wird viel durch – oft regenverhangene – Scheiben gefilmt. Auch die Titeleinblendung: „Le passé“ erscheint wie auf einer Scheibe und wird dann nach und nach von einem Scheibenwischer von der Leinwand gekratzt, bis sie vollständig verschwunden ist. Würde das Vergangene aber, einmal „weggewischt“, verdrängt und vor allem totgeschwiegen, fortbleiben, könnte direkt nach dem Titel der Abspann beginnen.
Ahmad (Ali Mosaffa) kommt nach vier Jahren aus Teheran zu seiner Frau Marie (Bérénice Bejou) nach Paris zurück, um sich scheiden zu lassen. Jedoch hat Marie nicht, wie er sie gebeten hatte, ein Hotelzimmer für ihn bestellt, sondern er soll bei ihr in ihrem baufälligen Häuschen in einem Vorort leben. Erst dort angekommen erfährt Ahmad, dass sie einen neuen Freund hat, dass sie sich scheiden lassen will, um wieder heiraten zu können. Damit nicht genug: Der neue Freund, Samir (Tahar Rahim), lebt teilweise bei ihr, mit seinem fünfjährigen Sohn Fouad (Eleys Aguis), mit dem sich Ahmad nun ein Doppelstockbett teilen soll. Außerdem begegnet Ahmad hier Léa (Jeanne Jestin) und Lucie (Pauline Burlet) wieder, Maries Töchtern aus erster Ehe. Während ihn die kleine Léa begeistert empfängt, macht sich die jugendliche Lucie erst mal rar. Was nicht an ihm liegt, sondern am angespannten Verhältnis zu ihrer Mutter. Ahmad findet bald heraus, dass Lucie mit der neuen Beziehung Maries nicht einverstanden ist. Jedoch erschließt sich ihm in dem komplexen familiären Gefüge, wo niemand wirklich offen und ehrlich mit dem anderen spricht, erst sehr allmählich, warum: Samirs Frau Céline liegt im Koma, nach einem Suizid-Versuch, den sie beging, weil sie von der Affäre ihres Mannes mit Marie erfuhr.
„Le passé“ ist der siebte Film Asghar Farhadis, und der erste, der nicht im Iran, sondern in Frankreich und komplett auf Französisch gedreht wurde. Der Film knüpft zunächst deutlich an die Vorgänger an. Und zwar sowohl was die Themen von dysfunktionalen Familien, Trennungen und Schuld anbelangt, als auch in der Struktur. Ins Zentrum seiner Filme stellt der Regisseur oft ein Rätsel mit dezidiert kriminologischen Zügen. Nach dem Verschwinden einer jungen Frau („Alles über Elly“) etwa oder der Klärung der Umstände, unter denen eine andere junge Frau ihr ungeborenes Kind verlor („Nader und Simin“), geht es nun darum, warum wiederum eine junge Frau versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Viel wichtiger als die Tatsache, dass dieses Rätsel in allen Filmen schließlich mehr oder weniger vollständig aufgelöst wird, ist, dass durch sie Konflikte zwischen den Figuren aufbrechen und zu Tage treten, die vorher nur unter der Oberfläche gärten und brodelten.
Durch den Wechsel des Schauplatzes merkt man jedoch auch deutliche Akzentverschiebungen. In allen vorangegangenen Filmen seit „Fireworks Wednesday“ (2006) spielte soziale Segregation eine entscheidende Rolle. Die zentralen Konflikte entstanden oft zwischen einer gehobenen Teheraner Mittelschicht und ihren Bediensteten. Außerdem ging es häufig um die Rolle der Frau in einer Gesellschaft, die sich in einem Spannungsfeld zwischen religiöser Tradition und moderner Lebenswelt befindet. In „Nader und Simin“, dem mit dem Oscar und dem goldenen Bären prämierten Vorgänger zu „Le passé“, findet sich hierfür eine wunderbare Szene. Eine Frau, die einen senilen alten Mann pflegen soll, muss ihn sauber machen, nachdem er sich eingemacht hat. Sie ruft bei einer Hotline für religiöse Fragen an, um sich zu erkundigen, ob das mit den Moralvorstellungen des Koran vereinbar ist.
In „Le passé“ nun spielen weder soziale noch Geschlechterfragen eine bedeutende Rolle. Vielmehr geht es um die vielfältigen psychologischen Verwicklungen eines modernen westlichen Familiengefüges, in dem der Regisseur, das ist definitiv eine Leistung, so souverän den Überblick behält, dass es aussieht, als ob es eine Leichtigkeit wäre. Wurden in den iranischen Vorgängern in die jeweiligen Fälle auch die Behörden (Richter, Polizei) mit einbezogen; spielten auch äußere Zwänge immer eine Rolle (vom „was sollen denn die Nachbarn denken“ bis zur Migration auf der Suche nach einem besseren Leben), werden die vielfachen Konflikte und moralischen Dilemmata in „Le passé“ ganz ins Innere der Figuren und ihrer Beziehungen verlagert.
Paradoxerweise treibt aber gerade dieser Film Farhadis Tendenz, seine Sozialdramen wie Krimis zu erzählen, auf die Spitze. Die – teilweise beträchtliche – Spannung ergibt sich ganz aus der zunehmenden Anspannung in und zwischen den Figuren. Den zahlreichen plot twists liegt immer ein psychologisches Moment zu Grunde; sie ergeben sich aus Verschiebungen, Übertragungen, Ersatzhandlungen.
Farhadi beweist einmal mehr, dass er ein Regisseur ist, der sich darauf versteht, hervorragendes Handwerk ganz in den Dienst seiner Erzählung zu stellen. Wurde in „Nader und Simin“ noch viel mit der Handkamera gedreht, bleibt die Kamera in „Le passé“ überwiegend statisch und ruhig. Wenn jedoch gestritten wird, was häufig vorkommt und selten zu irgendwelchen Lösungen führt, fängt er die destruktive Dynamik des Geschehens in hektischen Schwenks und Bewegungen ein.
Ein weiterer Punkt, der maßgeblich zum Gelingen des Films beiträgt, sind die grandiosen Schauspieler. Vor allem Bérénice Bejou brilliert als Frau, die das Geschehen gerne lenken würde, der es jedoch immer weiter entgleitet. Wenn Farhadis Filme oft voller latenter Aggressionen sind, die sich dann mehr oder weniger plötzlich in verbalen und/oder körperlichen Gewaltausbrüchen entladen, dann findet er in Ali Mosaffa und Tahar Rahim zwei ideale Schauspieler dafür. Sie machen die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern deutlich spürbar, ohne dass sie ausgesprochen werden müsste. Den Gegenpol dazu bildet das expressive Spiel der mindestens ebenso beeindruckend agierenden Kinder. Allen voran Elyes Aguis als Fouhad.
Farhadi sagte in einem Interview: „In meinen Filmen drücken die Personen sich indirekt aus. Das ist Teil meiner Kultur, aber ich setze das auch als dramaturgisches Mittel ein. In Frankreich ist das nicht üblich (…) im Allgemeinen sind die Franzosen direkter.“ Umso interessanter, dass es gerade in Farhadis erstem französischen Film um das Problem von Menschen geht, miteinander zu reden – in einer vermeintlich offenen und aufgeklärten Gesellschaft. Dialektik der Sprachlosigkeit.