Kind 44

(USA / GB / RO 2015; Regie: Daniel Espinosa)

Serienkillerhatz im sowjetischen Morast

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als er noch ein Kind war, bei der Holodomor, einer Hungersnot, die in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Millionen Opfer forderte. Ob Stalins Politik absichtlich zu dieser Katastrophe führte, wie es die kurzen Texttafeln zu Beginn des Films behaupten, ist in der Geschichtsschreibung umstritten. Jedenfalls erscheint die Sowjetunion in „Kind 44“ von den ersten Sekunden des Films an als böser Vater, der seine unliebsamen Kinder zwar nicht auffrisst, aber doch im Wald sich selbst und dem Hunger überlässt (später im Film wird dieser Staat dann in die Rolle eines alttestamentarischen Gottes schlüpfen, der das Opfer eines nächsten Angehörigen als Loyalitätsbeweis fordert). „Im Paradies gibt es keinen Mord“, diese Worte, als Motto und Leitmotiv dem Film vorangestellt, klingen von Anfang an wie blanker Hohn.

Demidow (Tom Hardy) jedenfalls wurde vom größt denkbaren Verlierer eines Systems zum triumphierenden Helden desselben. Im Mai 1945 lässt ihn das Drehbuch als Soldat für die berühmten Fotos die Fahne der Roten Armee auf dem Reichstag hissen. Wobei er sich jedoch vorher die vielen Uhren, die er an einem Arm trägt, abnehmen muss, um die strahlenden Helden nicht wie Plünderer aussehen zu lassen. (Gut recherchiert, aber eindeutig parteiisch ist der Film – bzw. wahrscheinlich schon der Bestseller-Roman, der ihm zugrunde liegt – auch hier: Tatsächlich wurden die betreffenden Fotos mehrmals retuschiert, wobei unter anderem eine Uhr am Armgelenk des Soldaten entfernt wurde, bei der es sich jedoch auch um einen Kompass aus Armeebeständen gehandelt haben könnte.)

1953, in der Gegenwart der Handlung, arbeitet Demidow für das Ministerium für Staatssicherheit MGB und jagt sehr erfolgreich – vermeintliche – Gegner des sowjetischen Systems. Als der Sohn eines alten Armeefreundes ermordet wird und er sich in die Lage versetzt sieht, gemäß der Doktrin, dass es im Sozialismus kein Verbrechen gibt, die Tat als Unfall zu behandeln, beginnt das, was eine Desillusionierungsgeschichte sein könnte, würde sich in der stalinistischen Sowjetunion, wie sie der Film zeigt, noch irgendjemand irgendwelche Illusionen machen. Wo der historische Stalinismus ja die totalitäre Pervertierung eigentlich einmal sehr humaner Ideen war, gibt es in „Kind 44“ ein System, dessen Handlanger ausschließlich aus Angst handeln oder weil ihre Arbeit ihren soziopathischen Wesenszügen entgegen kommt, wie im Falle von Demidows Kollegen Wassili (Joel Kinaman).

Während sich die Hinweise häufen, dass der ermordete Junge Opfer eines Serienkillers war, der entlang von Bahnlinien an weit entfernten Orten sein Unwesen treibt, laufen die Dinge für Demidow endgültig aus dem Ruder, als ihn sein Vorgesetzter Generalmajor Kuzmin (ziemlich fies: Vincent Cassel) damit beauftragt, seine Frau Raisa (Noomi Rapace) zu beschatten, die im Verdacht steht, eine Verräterin zu sein. Er und seine Frau geraten bei ihrer Suche nach dem Serientäter bald selbst ins Visier des Geheimdienstes.

Der schwedische Regisseur Daniel Espinosa empfahl sich mit dem in seinem Herkunftsland ungemein erfolgreichen, sehr intensiven und hervorragend gespielten Gangsterepos „Easy Money“ (2010) für Hollywood. Dort legte er 2012 den schönen, trotz atemberaubenden Tempos und Happy End grundmelancholischen Geheimdienst-Actioner „Safe House“ vor, der überdies mit Ryan Reynolds und Denzel Washington über ein tolles Männer-Gespann in den Hauptrollen verfügte.

Dass das Vorgängerwerk Espinosas ein Film war, bei dem die westlichen Geheimdienste im Allgemeinen und die CIA im Besonderen gar nicht gut wegkamen (Waterboarding und Mord inklusive), eröffnet noch einmal eine etwas andere Perspektive auf „Kind 44“. Statt der Abrechnung mit einem überkommenen Schurkenstaat mag man im Vordergrund die universellere Geschichte von gebrochenen Männern sehen, die unter Einsatz aller ihrer Kräfte versuchen, sich in einem durch und durch korrupten System zu behaupten, und dabei, so gut es nur geht, moralische Integrität zu bewahren. Diese Geschichte lässt sich eben, so verdeutlicht das Schaffen des Regisseurs, im kriminellen Milieu Stockholms genauso gut erzählen wie in den westlichen Geheimdiensten der Gegenwart oder den sowjetischen der Vergangenheit.

Wo Espinosa schon in seinen vorangegangen Filmen den Schauplätzen große Bedeutung beimaß, darauf bedacht war, sie in sehr spezifische Beziehungen zu Handlung und Figuren zu setzen, komplexe Relationen zwischen Innen und Außen zu schaffen, übertrifft er – und seine Ausstatter und Szenenbilder – sich hier selbst in dem Versuch, die Sowjetunion als einen Ort tristester Trostlosigkeit wieder auferstehen zu lassen. Schon Moskau, das Zentrum der Macht, in dem der Film beginnt, scheint nur aus klaustrophobischen Interieurs zu bestehen. Nirgendwo erlauben es die Breitbilder dem Blick, in die Ferne zu schweifen. Wualsk, die Industriestadt, in die Leo und Raisa verbannt werden, erscheint dann erst recht als ein vollkommen abgewrackter Ort, ein menschgemachter Sumpf, durch den die Eisenbahnen sich bedrohlich, dunklen Drachen gleich, ihren Weg bahnen. Den schwarzbraunen Morast dieses Ortes kann der Film nur noch toppen, indem er seine Hauptfiguren im Showdown im Schlamm miteinander ringen lässt.

Wenn der Serientäter schließlich überführt wird, offenbaren sich tiefe biographische Verbindungen zu dem Mann, der ihn jagte, so als würde der Protagonist in einem dunklen Spiegel seiner selbst gewahr. In seiner Verteidigung, dass Demidow es sich schließlich ausgesucht habe, Handlanger eines verbrecherischen Systems zu werden, während er nicht anders könne, als zu morden, wird Peter Lorres berühmte Verteidigungsrede vor dem Verbrechertribunal am Ende von Fritz Langs „M“ (1931) evoziert, die in dem ikonischen, manisch vorgetragenen „Will nicht! Muss!“ kulminierte. Was sich an „Kind 44“ dann doch etwas falsch anfühlt, mag der Vergleich zu einem anderen Film offenbaren, der ebenfalls den Umgang mit Serienkillern in totalitären Systemen thematisierte, einem der wenigen Filme, die sich in der Bundesrepublik in den Fünfziger Jahren um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bemühte, der in „M“ vorweggenommen wurde: Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ von 1957. Wo Siodmaks Film an die Möglichkeit des Menschen glaubte, auch in Extremsituationen Entscheidungen zu treffen, nicht aber an das richtige Leben im falschen, findet der gebrochene Held bei Espinosa am Ende doch – wenn auch mit Einschränkungen, denn die Wahrheit, für die er kämpfte, bleibt dabei ein Stück weit auf der Strecke – ebendieses. Auch geht es, wenn er schließlich eine neue Familie finden darf, reichlich rührselig zu.

Benotung des Films :

Nicolai Bühnemann
Kind 44
(Child 44)
USA / Großbritannien / Rumänien 2015 - 138 min.
Regie: Daniel Espinosa - Drehbuch: Richard Price - Produktion: Michael Schaefer, Ridley Scott, Greg Shapiro - Bildgestaltung: Oliver Wood - Montage: Dylan Tichenor - Musik: Jon Ekstrand - Verleih: Concorde - FSK: ab 16 Jahren - Besetzung: Nikolaj Lie Kaas, Vincent Cassel, Paddy Considine, Charles Dance, Gary Oldman, Sam Spruell, Tara Fitzgerald, Josef Altin, Jason Clarke, Tom Hardy, Noomi Rapace, Joel Kinnaman, Fares Fares, Ned Dennehy
Kinostart (D): 04.06.2015

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1014763/