Der junge Frank Fowler wird erschossen. Ein Eifersuchtsdelikt. Weil die Eltern des Täters reich genug sind, werden statt „Mord“ „Totschlag“, statt „Lebenslänglich“ „höchstens 5 Jahre“ ausgehandelt und die Untersuchungshaft gegen Kaution ausgesetzt. Der Delinquent ist bis zum Beginn der Verhandlung auf freiem Fuß. Und das kann noch ein Jahr dauern. Selbst wenn Ruth und Matt Fowler, die Eltern des Opfers, die Stadt wechseln würden, könnten sie diese Situation nicht ertragen. Aber nun muss Ruth den Mörder ihres Sohnes sogar täglich beim Einkaufen sehen. Kaum jemand im Bekanntenkreis, der ihre Verzweiflung nicht versteht. Wo die Justiz versagt, muss der Einzelne das Recht selbst in die Hand nehmen, und so greift Vater Matt zur Pistole, Richard Strout zu bestrafen. Die Ordnung ist wieder hergestellt…
Auf den ersten Blick ist dieser Plot etwas für kleine Charles Bronsons, für Leute, die sich noch trauen, die Welt – ohne liberales WischiWaschi – in Gut und Böse, in richtig und falsch einzuteilen. Nur wird voraussichtlich keiner dieser letzten Gerechten länger als die Hälfte von „In the Bedroom“ durchhalten, entweder, weil er sich – durch den Titel irregeführt – in einem „Erotikfilm“ wähnte, oder weil er sich schnell langweilt, denn der Film lässt sich immens viel Zeit, sorgfältig seine actionfreien, alltäglichen Handlungsfäden zu spinnen.
So unspektakulär wie sein Schauplatz, ein neuenglisches Fischerstädtchen im US-Staat Maine, ist seine Erzählweise. Ein aufmerksames Publikum ist gefordert, eines das genau verfolgt und hinterfragt, das sich nicht mit vordergründigen Attraktionen oder Gemeinplätzen abspeisen lässt. Die Kamera nähert sich respektvoll, fast diskret den genau gezeichneten Angehörigen einer gutbürgerlichen Mittelschicht,- so genau, dass deren Leben bis in kleinste Verästelungen einem wahren Leben gleicht. Die Grillfeste, der Hummerfang, die Herrenpokerrunde, der Mädchenchor unter der Leitung der Mutter, der Vater, ein praktischer Arzt, der einzige Sohn kurz vor dem Studium der Architektur, und seine nicht ganz standesgemäße aktuelle Freundin Natalie, eine Verkäuferin, etwas älter als er und Mutter zweier Kinder. „Sie ist nur so ein Sommerding“, sagt Sonnyboy Frank beschwichtigend zur argwöhnischen Mutter, aber wir sehen, dass sie mehr für ihn ist.
Vielleicht die größte Stärke des Films: Was seine Protagonisten auch sagen, ihr Verhalten, ihre Gesten verraten ihre Wahrheiten, oft nur angedeutet, immer unterschwellig, nie plakativ. Wir sollen genau hingucken.
Die Bedrohung durch Strout, Natalies Ehemann, der sich nicht mit der Trennung von Frau und Kindern abfinden kann, schleicht sich unauffällig in das geregelte Leben der Fowlers. Langsam wird Strout zu einem Problem, das man gerne verdrängt. Der Film tut es den Fowlers gleich und stellt ihn so lange nicht in den Mittelpunkt, bis er das Schreckliche getan hat und Frank mit zerschossenem Gesicht am Boden liegt.
Nie setzt der Film auf dramatische Effekte. Wir sehen nicht die Tat, wir hören nur die Schüsse. Wir sehen auch nicht, wie der Vater der Mutter die Todesnachricht überbringt. Wir sehen ihn nur vorher in der Tür, und sie noch in ihre Arbeit vertieft. Vor ihm das Unerträgliche. Und statt des Voyeurismus im entscheidenden Moment: die diskrete Schwarzblende.
Wenn ein paar Tage später die Arzthelferin den über Unterlagen gebeugten Matt fragt: „Ist alles in Ordnung?“ und er antwortet: „Ja, natürlich.“ dann weiss die Kamera/der Zuschauer, wie schlimm es um ihn steht.
Auch Ruth, die vorher betont freundliche Mutter, hat sich verändert. Kettenrauchend, verschlossen sitzt sie nur noch vor dem Fernseher, ihrem Mann unerreichbar. Der Tod des Sohnes reißt ein Loch in die Ehe und ist nicht kommunizierbar. Eine gemeinsame Trauer ist nicht praktikabel, weil unausgesprochene Vorwürfe zu fatalen Schuldzuweisungen angewachsen sind.
Der Druck steigt, und ein aufbrechender Streit – der einzige Moment, in dem punktuell artikuliert wird, was latent schwelt, – bringt dem Paar statt einer Klärung nur erschreckende Einblicke in alte, festgefahrene Ressentiments, die in einer geordneten, gutbürgerlichen Ehe eben nicht thematisiert werden. Unmöglich, das alles hier und jetzt aufzuarbeiten. Und so entschuldigt sich Matt dafür, dass er Ruth Gefühllosigkeit vorgeworfen hat. Er will sie nicht verlieren, und sie will nicht mehr dem Mörder ihres Sohnes begegnen. Draußen ist der Feind.
Mit einer meisterlichen, an Bergman oder Cassavetes erinnernden Präzision und Komplexität sind die Fowlers gezeichnet. Das ist auch Tom Wilkinson und Sissy Spacek zu verdanken, aber nicht denkbar ohne die souveräne und genaue Arbeit des Regieerstlings und bisher Nur-Schauspielers Todd Field (bekannt als Pianist in „Eyes Wide Shut“). Unaufdringlich aber deutlich zeigt der Film neben der „offiziellen“ immer auch die innere, psychische Beschaffenheit. Selbst Nebenfiguren sind frei von Klischees, wirken wie real existierende Personen, auch wenn sie nur kurz die Geschichte streifen.
Mit einer Ausnahme. So überzeugend Richard Strout, der Täter und Nochehemann von Natalie durch William Mapother verkörpert wird: Als einziger bleibt jener, der das Unheil bringt, und der es am Ende wieder auf sich zieht, eindimensional. Strout ist zu Beginn krankhaft eifersüchtig, rücksichtslos egozentrisch, und er ist es am Schluss. Das Grinsen in seinem unschönen Gesicht ist die einzige Maske, hinter die uns kein Blick gewährt wird. Und weil er sich offenbar nicht ändert, nichts bereut (wann könnte er auch, wenn er bis zu seiner Exekution annähernd von der Leinwand verschwunden ist?), er, im Gegenteil, mit seiner latenten Brutalität – kaum freigelassen – schon wieder eine andere Frau belästigt, empfinden wir eine klammheimliche Genugtuung angesichts Matt Fowlers Akt der Selbstjustiz. Unter vorgehaltener Pistole versucht Strout devot seine Tat zu rechtfertigen: „Ihr Sohn hat schliesslich meine Frau gefickt, Dr. Fowler“. Irgendwie kann man verstehen, wenn Fowler außerplanmässig zu früh abdrückt, und sagt: „Ich konnte einfach nicht länger warten!“
Wir sehen: Ein empfindsamer Mensch wie Matt Fowler ist durch seine Tat für immer gezeichnet, sein Leben womöglich zerstört. Das schwer Ertragbare aber ist, dass wir am Ende mit ihm mehr Mitleid haben (müssen), als mit seinem Opfer. Und dass es keinen Augenblick gibt, in welchem Strout als Mensch gezeigt wird, der das gleiche Recht zu leben hat, wie der von ihm Erschossene. Der Film zeigt: Die Fowlers haben sicherlich keinen legitimen Anspruch auf ihre verzweifelte Rache, aber nachvollziehbar ist sie doch zu sehr. Um diese Nachvollziehbarkeit zu erreichen, wendet der Film eine ungeheure Sensibilität auf, die er der anderen Seite, der Person Strout, vorenthält.
Hier beginnt der Film unangenehm zu wirken. Wer behauptet, die gelungensten Erzählungen, seien sie auf Papier oder Zelluloid, wären frei von der Absicht moralischer Aussagen, der irrt. Selbst die Verkünder des Nihilismus sind Moralisten, selbst die distanziertesten Beobachter diffizilster Verhältnisse wollen uns etwas zeigen, weil sie aufklären wollen, weil sie meinen, uns wichtige Wahrheiten vermitteln zu können, über die Gesellschaft und das Individuum. Stets ist der gewählte Ausschnitt, mag er noch so wahrhaftig sein, immer auch ein Standpunkt, ein Urteil, weil er zwangsläufig einen anderen Ausschnitt eliminieren muss. Wenn aber ein Stoff von Schuld und Schuldzuweisung, Sühne und Bestrafung handelt, sollte sein maßgebliches Kriterium Ausgewogenheit sein. Die aber liefert der Film explizit nicht. Die Beantwortung der Frage, ob es die literarische Vorlage „The Killings“ von Andre Dubus tut, sei der Literatur-Kritik überlassen.
So gelungen sich der Film auch um die Freiheit von Klischees bemüht, gerade der zentralen Figur wird sie zu wenig gewährt – und das ist mehr als ein Faux-Pas. Es ist tendenziös. Einem Cassavetes, einem Bergman wäre eben das nicht passiert.
„In the Bedroom“ rechtfertigt keine Selbstjustiz, aber er macht sie emotional nachvollziehbar. Das allein wäre kein Fehler. Doch wenn Field das Bild eines gewissenlosen Mörders unwiderlegt lässt, und das komplexe Portrait eines sensiblen und deshalb „guten“ Mörders dagegen stellt, wird’s bedenklich. So wird der Film nämlich zu einer Rehabilitierung des richtenden Bürgers mit Herz, dem – wie wir sehen – die Vollstreckung nicht zumutbar ist, und deshalb vielleicht sogar zu einer sehr subtilen Befürwortung des Mordes, der „Todesstrafe“ genannt wird.
Gerade wegen seiner Subtilität aber ist „In the Bedroom“ eine Seltenheit im zeitgenössischen Film, eine Gratwanderung auf allerhöchstem Niveau, mit der Option zum Absturz ins Reaktionäre. Gleichwohl mag mancher Unbestechliche die Balance halten können, und wer sich nicht zu vorschnellen Urteilen hin(ab)reissen lässt, wird in „In the Bedroom“ trotz seiner Interpretierbarkeit ein Werk von höchster Qualität erkennen. Ist nicht doch der von seiner Rache zurückgekehrte, verstummte Vater Fowler das überzeugendste Argument gegen das schlechthinnige Töten, das wir seit langem im Kino gesehen haben? Wenn es einen Film gibt, über den man nicht aufhören kann, zu diskutieren und zu grübeln, dann dieser. Das ist es, – in jedem Fall – wie Kino sein sollte.
Als prämiierter Independent-Film angetreten, war „In the Bedroom“ mehrfach für den Oscar nominiert, erhalten hat er keinen. Vielleicht aber ist in jener besonderen Aufmerksamkeit, die seinem prekären Stoff zuteil wurde, ein Widerhall hörbar,- nicht nur einer US-amerikanischen Stimmungslage, auch einer US–Außenpolitik nach dem 11. September 2001.