Gerade hatten wir noch gedacht, dass die Filme von Ulrike Ottinger, Filme wie „Bildnis einer Trinkerin“ oder „Freak Orlando“ auch ruhig mal wiederentdeckt werden könnten, da kommen zwei Filme ins Kino, die auf je spezifische Weise und vielleicht auch nur in bestimmten Momenten gleichfalls dafür plädieren. Gerade erst startete der famose „Eine flexible Frau“ von Tatjana Turanskyj; jetzt folgt die Geschichte von »Lonely Drifter Ellen«. Wo Turanskyj auf Brecht, satirische Überzeichnung und die Essayform setzt, spielt Pia Marais‘ neuer Film „Im Alter von Ellen“ (was für ein grandioser, nichts versprechender, nichts vorweg nehmender Filmtitel!) mit der Überraschung, mit der Unvorhersehbarkeit und auch Unwahrscheinlichkeit des Handlungsverlaufes. Hinter der nächsten Ecke lauert das nächste Abenteuer, die nächste unerwartete Erfahrung – verspricht dieser Film. Das ist nicht wenig.
Die Uniform sitzt, ihr Schritt ist sicher und forsch. Wenn wir Ellen Colmar (Jeanne Balibar), französische Flugbegleiterin in deutschen Diensten, zum ersten Mal begegnen, ist alles Routine. Am Flughafen wartet bereits der Freund Florian (Georg Friedrich); am Abend könnte man zusammen etwas Schönes kochen. Doch Florian hat eine Überraschung in petto: er hat Ellen betrogen, die neue Freundin ist schwanger und will das Kind auch behalten. Kein guter Auftakt! Auf ihrem Anrufbeantworter hört Ellen zudem eine besorgte, dringliche Stimme aus ihrer Arztpraxis: sie solle sich bitte umgehend in der Praxis einfinden. Schlechte Nachrichten, die sich schlecht mit dem Berufsalltag in Transiträumen – Flughäfen, Hotels – verbinden lassen. Eines Tages, die Startvorbereitungen im Flugzeug laufen bereits, auf die Startbahn hat sich ein Gepard verirrt (Achtung! Zeichen!), steht Ellen einfach auf und verlässt ihr bisheriges Leben. Man könnte sagen, sie wird aus der Bahn getragen und schaut sich jetzt nach einer anderen, alternativen Bahn um. Aber das wäre bereits zu selbstbewusst, zu aktiv formuliert. Ellen sucht nicht, Ellen lässt sich treiben – und der Zufall schlägt ein paar Kapriolen.
Auf „Im Alter von Ellen“, den zweiten Spielfilm von Pia Marais, durfte man gespannt sein. In ihrem von der Kritik gepriesenen Debüt „Die Unerzogenen“ erzählte die Filmemacherin mit der eigenwilligen Biografie (geboren in Südafrika, Kunststudium) originell von den Folgeschäden der antiautoritären Erziehung: aus der Perspektive des betroffenen Kindes, das von seinen Eltern schlicht allein gelassen wird, weil diese mit sich selbst beschäftigt sind. „Die Unerzogenen“ war ein provokantes sommerliches Kammerspiel in braun-grünen Seventies-Look. Haltung und Look hat sich Marais auch in ihrem zweiten Film bewahrt: Jenseits der aseptischen Flughafenräume sieht „Im Alter von Ellen“ recht unaufgeräumt aus. Bei ihrer Odyssee durch fremde Lebensentwürfe erlebt Ellen skurril-surreale Szenen wie Unterwäsche-Partys in Flughafen-Hotels oder Nackt-Happenings militanter Tierschützer. Die Kamera sammelt Impressionen von Hotelzimmern nach der Party oder Wohn-Kommunen, die bereits wie Durchgangslager aussehen. Es ist Ellens Ex-Freund Florian, der überhaupt noch daran denkt, sich einzurichten in der Welt: er kauft Eigentum mit zwei Wohnungen, zwei Eingängen, zwei Bädern, um Ex-Freundin und neue Geliebte unter ein Dach zu bekommen. „Alle alten Männer träumen von einem Harem!“, heißt es dazu in Rudolf Thomes meisterlichem „Das rote Zimmer“. Junge offenbar auch.
Doch zu diesem Zeitpunkt ist Ellen längst anderswo unterwegs, ihr Blick auf die Welt hat sich geweitet. Begegnungen mit anderen Menschen begreift sie explizit nur noch als „Brücken“ auf einem Weg, der sich der Zukunft geöffnet hat. Als ausgesprochen produktiv erweist sich Marais‘ Entscheidung, die Hauptrolle mit dem französischen Star Jeanne Balibar zu besetzen, die bereits mit Jacques Rivette und Olivier Assayas arbeitete. Durch ihr gebrochenes, ungeschmeidiges Deutsch gerät sie automatisch in Distanz zu ihrer Umwelt. Die Tatsache, dass sie über weite Strecken auch noch ihre Flugbegleiter-Uniform aufträgt, wirkt zudem wie ein erzählerisches Augenzwinkern in Richtung des Zuschauers. Formal überzeugend und intellektuell reflektiert erzählt Pia Marais in „Im Alter von Ellen“ von sich auflösenden traditionellen Strukturen, die in mehrfacher Hinsicht durch »Bewegungen« ersetzt werden müssen, die Sinn nur noch temporär produzieren. Die Filmemacherin spart bei ihrer Passage durch diverse Lebenswelten nicht an sarkastischen Beobachtungen, lässt aber erfrischend offen, ob es genügt, immer in Bewegung zu bleiben. Am Ende verliert sich Ellens Spur dort, wo sie einst aufbrach: sie verschwindet im Dunst des afrikanischen Regenwaldes. Müssen wir uns deshalb Sorgen machen?