“Even in the face of something like gravity, one can jump at least three or four feet in the air and even though gravity will drag us back down to the earth again, it is in the moment we are three or four feet in the air that we experience true freedom.” – David Wojnarowicz
Daiga ist eine junge Litauerin, vor wenigen Tagen erst ist sie in einem schrottreifen Auto nach Paris gekommen. Immer wieder sagt man ihr hier, wie hübsch sie sei oder gafft sie einfach an. Genau wie der Typ, der ihr eines Abends durch die menschenleeren Straßen folgt und der nicht nur gucken will. Daiga flüchtet in ein Pornokino, ihr Verfolger bleibt zurück und zischt ihr zum Abschied noch „Schlampe!“ hinterher. Drinnen im Kinosaal setzt sich die junge Frau zwischen die Reihen von Männern, die peinlich berührt sind, als sie den einzigen weiblichen Zuschauer bemerken. Auf der Leinwand spricht ein Cowboy mit einer splitternackten Frau, die sich unbeholfen räkelt. Daiga lacht laut und befreit auf.
Diese Szene aus Claire Denis’ „Ich kann nicht schlafen“ lässt sich als Verdichtung des ganzen Films sehen, vielleicht sogar als eine Art Quintessenz des Kinos der Claire Denis. Daiga erlebt den Film (auch) als etwas Positives, obwohl er streng genommen das repräsentiert, wovor sie in der Wirklichkeit entkommen wollte: den männlichen Blick, der sie zum Objekt macht und unterdrückt. Die klassische feministische Kritik würde einen solchen Film aufgrund seiner Intention, nämlich der einseitigen Befriedigung männlicher Fantasien, wohl verurteilen und „PorNO!“ rufen. Daiga aber dekonstruiert den Film, liest ihn gegen seine intendierte Bedeutung, oder um es mit Gertrud Koch zu formulieren: Die Art, wie sich Daiga den Film aneignet, ist „eine, die sich in Scherben spiegeln kann.“ Sie zerschlägt das pornografische Machwerk in Fragmente und nimmt den Bedeutungsüberschuss der Zeichen wahr, das Unbeabsichtigte und Ungedachte.
Denis’ Filme sind von vornherein ein einziger Scherbenhaufen: Der Plot bleibt bruchstückhaft und assoziativ, die Dialoge kommen immer wieder zum Erliegen und die Momentaufnahmen sind bedeutsamer als ein großes Ganzes. Da keine Psychologisierung erfolgt oder eine moralische Haltung eingenommen wird, scheint es fast, als wäre „Ich kann nicht schlafen“ bloß noch konnotativer Überschuss, dem keine zwingende Lesart und Absicht zugrunde liegt. An die Stelle konventioneller Spannungsbögen und konstruierter Thrills treten eine sinnliche Atmosphäre und ein eigenständiger Blickwinkel. Die produzierten Bilder der Stadt haben nichts mit den typischen Postkartenmotiven gemein, sondern wagen einen diskreten Blick auf die Ränder der Metropole,- weit und breit kein Eiffelturm in Sicht.
Hier ist nichts fabelhaft, die Blicke der weißen Männer und mit ihnen Rassismus und Sexismus sind allgegenwärtig. In der Blickökonomie stehen die Polizisten, die Legalen und Heteros ganz oben, Paris liegt ihnen in der verstörenden Eröffnungsszene buchstäblich zu Füßen, als wäre die Stadt ein gigantisches centerfold. „Ich kann nicht schlafen“ nimmt all das wahr, erzählt aber vor allem von denen, die beguckt werden und ihren Versuchen, an der Gesellschaft und den Möglichkeiten des Großstadtlebens Teil zu haben. Da sind neben der Immigrantin Daiga noch Théo, der sich nach einem imaginierten Martinique, der Heimat seiner Eltern, sehnt und dessen schwuler Bruder Camille, der als Travestiekünstler auftritt und seinen teuren Lebenswandel mit Raubmorden an alten Damen finanziert. In Ellipsen folgen wir den drei Protagonisten auf ihren Wegen durch die Stadt, die vom Gedanken an Sicherheit und Ordnung besessen zu sein scheint, überall lauern Polizisten, Müllmänner und Putzfrauen. Doch immer wieder tun sich Nischen auf, es entstehen zumindest kurzzeitig Freiräume und neue Perspektiven, besonders da wo Regeln und Vereinbarungen gebrochen werden: Da ist die Flucht der Immigranten in die von den Franzosen als Bedrohung wahrgenommene Muttersprache, das gestohlene Geld, die Komik im Porno und immer wieder der Tanz als Ausdrucksmöglichkeit, wenn die Sprache längst gescheitert ist.
„Seid bloß nicht artig!“, gibt Camilles gutmütige Vermieterin ihm und seinem Liebhaber einmal mit auf den Weg und tatsächlich erweisen sich Grenzüberschreitungen für die Protagonisten als eine wertvolle Überlebensstrategie. Am Ende ist das allerdings nicht genug, Camille wird vom Pin-Up zum Phantombild und landet schließlich im Gefängnis, Théo träumt weiter von einer Heimat, die es nicht gibt und Daiga steigt wieder in ihren klapprigen Wolga und verlässt Paris. Weiterfahren, hier gibt es nichts zu sehen.
Zur DVD:
Bild- und Tonqualität sind gut, der Film findet sich sowohl in der französischen Originalfassung mit optionalen deutschen Untertiteln als auch als deutsche Sprachfassung auf der DVD. Bei der deutschen Tonspur findet allerdings keine automatische Untertitelung der russischen Passagen statt. Neben dem Film sind auf der DVD noch einige Trailer und auf der Rückseite des Covers sind kurze Hintergrundinformationen zum Film und zur Regisseurin gedruckt.