Man müsste das Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards, in das sich seine aktuelle Arbeit „Film Socialisme“ nahtlos einfügt, eigentlich aus seinen ästhetischen Verneinungen heraus definieren und davon sprechen, was seine Filme im Abgleich mit den gängigen filmsprachlichen Konventionen alles nicht sind. Weil in ihnen traditionelle Erzählmuster durchbrochen und aufgehoben werden, gibt es weder eine durchgehende dramatische Geschichte noch einen auf diese bezogenen Spannungsbogen. Bilder und Töne, collagiert oder einander nebengeordnet, sind vielmehr diskursiv aufeinander bezogen, wobei ein stetiger Austausch zwischen Vorder- und Hintergrund, On und Off stattfindet. Wie lässt sich, so eines der vielen Themen von Godard und von „Film Socialisme“, „die Wirklichkeit in die Wirklichkeit stecken“, also auch filmisch abbilden? Immer wieder kreist der Film – ähnlich dem Bild des Fischschwarms unter Wasser – um die Frage, wie sich die komplexe Realität trotz mangelhafter Instrumente erfassen lässt. Indem er erhofft, „das Unsichtbare zu zeigen“, formuliert Godard zugleich einen utopischen Anspruch an die Kunst.
Man müsse vor dem Lesen das Sehen lernen, heißt es einmal. Und an anderer Stelle: „Es gibt nichts Bequemeres als einen Text.“ Trotzdem oder gerade deshalb spielen Texte und Zitate, namentlich von Benjamin, Derrida, Sartre, Heidegger und vielen anderen, eine maßgebliche Rolle. Und aus der Vielstimmigkeit und Gleichzeitigkeit des Text- und Sprachengewirrs stellt sich dem Rezipienten immer wieder die Frage: Wer spricht?, während Töne und Musik (u. a. von Schnittke, Zimmermann, Kancheli, Beethoven und Pärt), Bilder und Texte einander überlagern oder beziehungsreich nebeneiander stehen. So wie sich die Träger der Stimmen bildlich nicht einfach identifizieren lassen, so bleiben auch die Urheber der Texte weitgehend ungenannt. Das aufgerufene Wissen (und seine Archive) fügt sich in Godards filmischer Dialektik gewissermaßen zu einer neuen (politischen) Ordnung; das Verstehen beginnt mit dem Staunen; und am Anfang des Films sieht man deshalb nicht umsonst ein Bild mit Papageien, von einem Piepston unterlegt.
„Film Socialisme“ handelt zunächst und vor allem von Wanderbewegungen, von den Wegen und Strömen, auf denen sich Geld, Waren und Menschen durch Zeiten und Räume bewegen; und davon, wie aus ihren Berührungspunkten und grausamen Zusammentreffen eine „unmögliche Geschichte“ entsteht. Diese Bewegung zwischen Flucht- und Sehnsuchtsorten ist vor allem eine zwischen Süden und Norden, Afrika und Europa und wird im ersten Teil des Films von einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer vollzogen. Dabei werden Orte wie Odessa, Jaffa, Hellas, Barcelona und Neapel als Wiegen der Menschheit aufgerufen und mit markanten Geschichtsdaten verknüpft: etwa der Russischen Revolution, dem Spanischen Bürgerkrieg und den Folgen des 2. Weltkriegs in menschlicher und nicht zuletzt kultureller Hinsicht.
Vor allem Griechenland als Ursprung der Demokratie, aber auch der Tragödie nimmt Godard dafür immer wieder in den Blick und mischt dabei inszenierte Bilder in den dominierenden Farben Blau, Rot und Gelb mit dokumentarischen Fundsachen. Das führt ihn im zweiten Teil des dreigliedrigen Films unweigerlich zu der Frage: „Quo vadis Europa?“ Und in eine französische Autowerkstatt mit dem nicht zufällig gewählten (Résistance-Tarn-)Namen „Martin“, wo die Kinder der gleichnamigen Familie gerade dabei sind, ihre Eltern einem ebenso privaten wie öffentlichen Verhör über die familiäre Zukunft zu unterziehen. Im „Wunsch, Europa glücklich zu sehen“, wird die Jugend überraschenderweise zum (sozialistischen) Hoffnungsträger für Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit: „Die Ideen trennen uns wohl wie uns die Träume einander näher bringen.“ Und: „Der Traum der Individuen ist, zu zweit zu sein.“