Ist das eine Sensation? Eher eine Überraschung. 21 Jahre nach „Nouvelle Vague“ kommt wieder ein Film von Jean-Luc Godard regulär in die deutschen Kinos. Wobei sich angesichts der Anzahl der verfügbaren Kopien von „Film Socialisme“ – ist es eine, sind es sieben? – der Plural „Kinos“ fast schon wieder verbietet. Man wird also sehen, was aus diesem Experiment, diesem Wagnis werden wird. Schließlich eilt Godard, wiewohl Filme wie „Eloge de L‘Amour“ (2001) oder „Notre Musique“ (2004) eigentlich als unsichtbare Filme gelten müssen, der Ruf voraus, seine Essay-Filme seien extrem schwierig und allemal kein Vergnügen.
Längst vorbei die Zeiten, als Filme wie „Pierrot-le-Fou“ oder „One plus One“ noch zu Kult-Filmen wurden, obwohl sie doch auch »schwierig« waren. Hat sich vielleicht unser Umgang mit »dem Schwierigen« verändert? Lockt »das Schwierige« nicht mehr? Lassen wir uns nicht mehr herausfordern? Gehört „Film Socialisme“ ins Kino oder eher in eine Kunstgalerie? Viele Kritiken zu „Film Socialisme“ beschäftigen sich zunächst einmal mit den Paratexten. Wer sagt was warum und worüber? Hat Godard (uns) noch etwas zu sagen? Oder ist er auf dem Holzweg? Vollends aus der Zeit gefallen? Ist „Film Socialisme“ Esoterik? Arrogant?
Zunächst einmal kann man sagen: „Film Socialisme“ besteht aus drei relativ autonomen, untergründig aber miteinander kommunizierenden Teilen und mehreren Dutzend Splittern, deren Rekonstruktion kein Ganzes ergibt. Muss man genau aufpassen? Teil 1 spielt auf einem Kreuzfahrtschiff, welches im erweiterten Mittelmeer herumfährt: Neapel, Alexandria, Haifa, Odessa, Algier, Barcelona. Odessa ist natürlich wichtig aufgrund der Treppe und der damit verbundenen Erinnerungen an den „Panzerkreuzer“. Menschen tauchen auf, reden miteinander. Namen werden genannt: Hitler, Stalin, Willi Münzenberg, Otto Goldberg, Leopold Krivitzky, Moise Schmucke, Napoleon, Balzac. Bei Godard ist das 20. Jahrhundert noch sehr präsent. Palästina/Israel. Jawohl, Herr Obersturmbannführer Goldberg! „Sie müssen vor Moskau keine Angst mehr haben.“
Eine Handlung erwächst aus den Splittern gerade nicht, denn „Film Socialisme“ ist ja das Gegen-Programm, die konsequente, auch technische Verweigerung des konventionellen Erzählkinos. Deshalb sind hier die Bilder zu dunkel, die Schnitte voreilig, die Mikrophone zu empfindlich, der Wind zu stark, die Geräusche zu laut, der Blick zu ungeduldig. Es heißt: „Schweigen ist Gold.“ Oder: „Sagen genügt niemals.“ Oder: „Ich möchte nicht sterben, ohne Europa noch einmal glücklich gesehen zu haben.“
Stichwort: Europa. „Film Socialisme“ evoziert Trümmer der Geschichte um das „Mare Nostrum“ herum: von Hellas (aka „HELL AS“) bis nach Barcelona. An Bord des Traumschiffs: Nazi-Jäger, Kriegsverbrecher, Finanzjongleure, Spione, Kinder, die Fragen stellen und, ja, Patti Smith. Die muss eine Gitarre bei sich tragen. Um als Patti Smith erkannt zu werden? Alain Badiou hält eine Vorlesung über Geometrie, allerdings in einem leeren Saal. Später im Mittelteil des Films, steht ein Lama an einer Tankstelle in Südfrankreich, und deutsche Touristen werden auch 65 Jahre nach Kriegsende noch immer als Eroberer beschimpft.
Der dritte Teil „Nos humanités“ schließt wieder an den ersten Teil an, kehrt nach Odessa zurück, wo Eisenstein einst Gegen-Bilder im Dienste einer großen Sache entwickelte, die sich dann irgendwann zerschlagen hat. Aber die Bilder sind noch da. Es geht um den Konflikt zwischen Israel und Palästina, um den Holocaust – und um „Democracy + Tragedy married. One child. Civil War.“ Barcelona. Godard durchstreift mit seiner multimedialen, vielsprachigen Collage die 2000jährige Geschichte des Mittelmeerraumes, zitiert Bilder aus Filmen wie „The Battle of Marathon“ oder auch „Cheyenne Autumn“, lässt Derrida und Hannah Arendt zu Wort kommen, setzt dann noch mal an und erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und ist in seiner Fixierung auf den Mittelmeerraum dann doch plötzlich sehr aktuell, wenn man an den arabischen Frühling und die Griechenland-Krise denkt.
Godard hat seit seiner „Histoire(s) du cinéma“ seine Collage-Technik als Markenzeichen perfektioniert: man erkennt einen Godard-Film sofort: angefangen von den Buchstaben über die Auswahl der Musik zu den teilweise atemberaubend schönen Kompositionen aus Bildern, Diskursen, Worten, Tönen, Geräuschen, die dann doch immer wieder zerschossen werden. Oder verächtlich zur Seite geräumt. Oder ironisiert. Denn Godard – erinnert sich noch jemand an „King Lear“, als Godard inmitten von Zelluloid thronte? – ist ja auch ein Clown, einer, der keinen Spaß auslässt. Auch, wenn ihm nicht zum Lachen ist. Aber eine Montagefigur wie „Palestine“ und „Access denied“ muss man auch erst mal bringen. In Cannes lief der Film ja auch mit Untertiteln in „Navajo Englisch“, also einem Englisch, wie es einst in Western die Indianer sprechen mussten. Diese Untertitel gibt es hierzulande jetzt nicht mehr zu sehen. Stattdessen wird seriös untertitelt. Auf dass „Sinn“ produziert werde. (Ist das eigentlich ein legitimer, ein vertretbarer Eingriff?)
Man kann das alles, wie Diedrich Diederichsen (in Cargo #7), unerträglich manieriert und berechenbar und auch in seiner Beharrlichkeit stur finden („Je länger aber das Problem und die künstliche Welt Godards besteht, desto weniger hilft mehr Ironisierung gegen die Dominanz des Godardismus bei Godard.“), aber kann sich auch sehr gut treiben lassen vom Fluss des „Film Socialisme“. Letztlich muss man sich darauf verständigen, was Film ist und/oder hätte sein können. Und was man damit anfangen will. Godard, so viel steht fest, könnte ewig so weiter machen. Ein neuer Film, so ist zu hören, ist längst in Arbeit.