Lars von Trier hat’s mit den Klassikern. In „Dogville“ (2004), dem Teil 1 seiner „Amerika-Trilogie“, bediente er sich des brechtschen Verfremdungseffektes, in „Europa“ (1990), dem 3. Teil der „Europa-Trilogie“, kreierte er ein kafkaeskes Nachkriegsdeutschland. Nicht zufällig erinnert der Titel an Kafkas Romanfragment „Amerika“ („Der Verschollene“), denn wo sich Kafkas ‚Verschollener‘ Karl Roßmann in den merkwürdigen modernen Ordnungssystemen „Amerikas‘ verirrte, da ergeht es Leopold Kessler in Lars von Triers absurd-düsterem „Europa‘ kaum anders. Triers cineastisches Kabinettstück, gedreht 1990, kommt am 21. Juli 2005 erneut in die Kinos.
Am Anfang ist die Stimme des Erzählers, der uns zum monoton-rythmischen Fluss unterwärts weggleitender Eisenbahnschwellen hypnotisiert und einstimmt: „Wenn ich bis zehn gezählt habe, wirst du in Europa sein.“ Bei „Zehn“ tritt der Protagonist ins Bild. Leopold Kessler ist statt unserer im Film „Europa“ angekommen. Oder wir mit ihm. Eine unverhohlenere Nötigung zur Identifikation ist kaum vorstellbar. Aber sie ist effektiv. Der Erzähler hat uns schon ganz hinein gezogen in seine Geschichte.
„Aus New York mit dem Schiff‘ sei Leopold angereist, wird ihm – und uns – eingesprochen; er hat also den umgekehrten Weg des „Verschollenen‘ hinter sich, „um ein Zeichen zu setzen“. Er will als Amerikaner den Deutschen im Herbst 1945 „etwas Freundlichkeit zeigen“ und „die Welt ein wenig menschlicher machen‘. Zu diesem Zweck möchte er (ausgerechnet) Schlafwagenschaffner bei „Zentropa‘ werden. „Zentropa“ ist die deutsche Bahngesellschaft, die vor und im 2. Weltkrieg Transporte von Passagieren, Waffen, Vieh und Sondertransporte, wie die von Juden ermöglichte, und sich danach auf Schlafwagen verlegt hat. Katharina Hartmann, die Tochter des Firmeneigners, verführt Leo zur Heirat mit ihr und versucht ihn auf ihre Seite zu bringen, die Seite des Revanchismus, die der letzten aufrechten Deutschen, die sich „Die Werwölfe“ nennen.
In Frankfurt/Main, Deutschland, Europa, herrscht andauernde Nacht. Die Deutschen leben in einem Zustand zwischen Apathie und Geschäftigkeit. Was sie wach macht, ist das Befolgen und Einhalten akribisch-absurder Regeln. Heilig im Deutschland der Ruinen ist die Wiederherstellung des Betriebs, der Eisenbahn, die Wiederaufnahme blinder Betriebsamkeit, Gehorsamkeit: Das Wichtigste ist, dass die Räder (wieder) rollen: Hunderte ausgemergelter Menschen, Sklaven der Maschine, schleppen eine Lokomotive mit Seilen aus einer Halle. Eine Schlüsselszene und Metapher für die Moderne, angelehnt an Langs „Metropolis‘ und Chaplins „Moderne Zeiten‘. „Amerika‘ trifft auf „Europa‘. Karl kehrt zurück als Leo. Auch das Kino nahm seinen Anfang in Europa, führte in die USA und kehrte mit der Siegermacht zurück – und „Europa‘ ist auch ein Film über das Kino.
Das Ensemble „Europas‘ wirkt mitunter wie ein Who-is-Who des deutschen Autorenkinos der siebziger Jahre: Urgestein Eddie Constantine, bekannt als FBI-Agent Lemmy Caution, als alter Mann in seinem vorletzten Film und Fassbinder-Schauspieler, wie auch Udo Kier oder Barbara Sukowa („Lola‘). Der amerikanische Idealist Kessler (deutscher Abstammung) wird gespielt vom Taucherass Jean-Marc Barr, bekannt aus Bessons „Im Rausch der Tiefe‘. Als Leos Onkel sehen wir Ernst Hugo Järegård, der vor seinem Tod noch zu verdienter Berühmtheit gelangte als göttlich misanthropischer Dr. Helmer in von Triers „Geister‘. In einer Nebenrolle erscheint Lars von Trier himself: ein Jude, dem die Haare nach dem KZ kaum wieder auf Streichholzlänge wachsen konnten. Ein armes Schwein, kein Befreiter. Nicht zuletzt mimt Dietrich Kuhlbrodt, Schauspieler, Filmkritiker (und Co-Herausgeber der filmzentrale!), im echten Nachkriegsdeutschland als Oberstaatsanwalt Verfolger von Naziverbrechern, den Zuginspektor, der Leopold Kessler in dessen Aufgaben bei „Zentropa‘ einweist.
Bezüge, wohin das Auge reicht: Darsteller als Verweise an die deutsche Kinogeschichte, alles pars pro toto: Wenn von Trier eine liebevoll aufgebaute, wie ein Uhrwerk laufende Modelleisenbahnanlage ins Spiel bringt, veranschaulicht er das allzudeutsche Märklin-Ideal. Wichtiger als ihr Sinn ist das Funktionieren der Ordnung. Kafka meets Germany, oder umgekehrt.
Irgendwann platzt Leopold angesichts des absurden, deutschen, europäischen, modernen Vorschriftendschungels der Kragen, und das ist lustig und für einen Augenblick befreiend: „Ich hab das Gefühl, seit ich hier bin, haben mich alle nur fürchterlich angeschissen – jetzt bin ich an der Reihe, jetzt sag‘ ich mal was …‘ Dann fehlen ihm die Worte.
Der Deutsche als Ordnungswesen wird im Film zur Karikatur, und die Karikatur zum Paradigma europäischen Seins erhoben. Das ist vermessen und deshalb irritierend, weil der Film vor Stilzitaten wimmelt und als Patchwork der Genres Nachkriegsfilm (maßgeblich: die Krupp-Familie aus Viscontis „Die Verdammten‘), Melodram, Thriller, mit demonstrativen Anleihen beim Expressionismus, bei Eisenstein, bei Hitchcock seine auktoriale Autonomie dauernd unterminiert. Dezidiert postmodern, darin vergleichbar höchstens mit Lynchs „Wild at Heart“, ist „Europa“.
Weitgehend in einem ranzigen Schwarzweiß gedreht, bedient sich der Film partiell der Farbe, wenn es sentimental oder blutig wird, der Verfremdung durch übergroße Hintergrundprojektionen – und des Schockeffekts, wenn in „Waggons, von deren Existenz du keine Ahnung hattest‘ (die landläufige Antwort der Deutschen 1945 auf die Frage nach Konzentrationslagern) bis auf die Knochen ausgehungerte Sträflinge auftauchen. In diesem Zug namens „Nachkriegsdeutschland“ fährt das KZ noch mit, als habe es nie eine „Befreiung“ gegeben.
Triers Deutschland mit seinen gleichgeschalteten Vollstreckern und Sklaven – ob vor oder nach dem Krieg – mit seinen Vernichtungsmaschinen und dem Holocaust, als dessen logistischer Höchstleistung, verdichtet sich so zur finsteren Vollendung der modernen Welt. Auch nicht nach der Katastrophe, nach dem ultimativen Verbrechen ist in diesem Deutschland irgend jemand lernfähig. Gerade ein naiver Leopold, der es mit allen nur gut meint, kann sich den normativen Zwängen von Zentropa-Europa nicht entziehen. Jede seiner Handlungen ist zwangsläufig parteiisch und wird sofort ausgenutzt. Er wird schuldlos schuldig, er hat keine Wahl – so wenig wie sein Vorgänger Karl in Kafkas „Amerika‘. Das Sein in „Europa‘ ist schiere Determination, und der Erzähler entpuppt sich als „Determinator‘, als ein böser Gott. Nur ein Weg führt aus diesem verlorenen Europa heraus, der durch den Tod. Aus dem Schlafwagenschaffner wird ein „Schläfer‘: „Am Morgen hat der Schläfer endlich Ruhe gefunden – am Grunde des Meeres …‘ Für die Schlusssequenz musste Barr sehr lange die Luft anhalten.
„Europa‘ war von Triers letzter hochartifizieller, streng durchkonzipierter Film, bevor er sich mit „Breaking the Waves‘ oder „Idioten“ den Schauspielern, der Improvisation und der Handkamera zuwandte. „Europa“, das opulente Werk eines Cineasten für Cineasten, sollte man im Kino sehen, solange sich die Gelegenheit bietet.