Die Gewalt kommt aus dem Off: Über die noch dunkle Leinwand legen sich Schreie und Stöhnen sowie die Geräusche zersplitternden Glases. Nur die aufmerksamen Augen einer Katze beobachten das brutale Geschehen. Auf dem Fußboden, inmitten von Scherben, liegt, sexuell missbraucht und verwundet, eine Frau. Doch Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), eine taffe, kühle und sehr selbstbewusste Geschäftsfrau, geht nicht zur Polizei. Stattdessen ermittelt sie selbst nach dem maskierten Vergewaltiger. Die Erinnerung an das traumatische Geschehen, vom Zuschauer bislang nur imaginiert, kehrt indes unvermittelt, heftig und in verschiedenen Visionen zurück: als reales Geschehen, als tödliche Rachephantasie und als Wiederholung des Traumas im Setting eines phantastischen Videospiels; denn Michèle leitet eine Firma, die solche Spiele entwickelt.
Paul Verhoeven erzählt seinen umjubelten Film „Elle“, die ebenso doppelbödige wie abgründige Adaption des Romans „Oh…“ von Philippe Djian, ganz aus der Perspektive seiner schillernden Heldin. Dass diese vielschichtig und unberechenbar gezeichnete, in Trennung lebende Frau ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Lust und sexueller Gewalt hat, zeigt schon ein Meeting mit ihrer Kreativabteilung, bei dem ein neues, gewalttätiges Video vorgestellt wird. Michèle ist aber auch Opfer einer dunklen Familiengeschichte, denn ihr Vater, ein „Monster“ in Menschengestalt, sitzt als verurteilter Mörder seit vielen Jahren im Gefängnis. Auch zu ihrer Mutter und zu ihrem erwachsenen Sohn pflegt sie Beziehungen, die von Hass und schroffer Aggressivität charakterisiert sind. Überdies betrügt sie ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Anna (Anne Consigny) mit deren Mann.
Es kommt also viel zusammen an familiärem und zwischenmenschlichem Konfliktpotential in Verhoevens rasant und gegen die Erwartungen inszenierter Gesellschaftssatire im Gewand eines Rape-and-Revenge-Thrillers. Dabei spielt Verhoeven routiniert mit Genre-Elementen und legt immer wieder falsche Fährten aus, um den dunklen, unscharf umrissenen Fleck aus Lügen, Begehren und seelischen Wunden zu umkreisen. Als Michèle schließlich ihren Peiniger identifiziert, wird in einer merkwürdigen Umkehrung die Angst zu einer Lust, mit der das Opfer geradezu nach seiner Unterwerfung verlangt. Aber so klar ist das nicht, auch wenn Michèle einmal sagt: „Das Schamgefühl ist nicht stark genug, um uns von irgendetwas abzuhalten.“