Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm „Ein Junge namens Titli“ seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr konventionelle, tief in den Genre-Mythologien von Gangsterfilm und Film noir verwurzelte Prämisse, der dieser Film folgt.
Titli (Shashank Arora) also möchte raus. Raus aus der engen, schmutzigen Gasse in einem Slum am Rande von Delhi. Raus aus dem Haus, das so winzig ist, dass man beim Essen immer jemandem zuhört, der sehr geräuschvoll seine Zähne putzt (gegessen und Zähne geputzt wird viel in diesem Film, der anstatt auf eine betont reißerische Darstellung des Lebens in einem Armenviertel darauf setzt, dieses möglichst alltäglich zu vermitteln). Raus aus der dysfunktionalen, von patriarchalen Strukturen und Gewalt der Älteren gegen die Jüngeren und der Männer gegen die Frauen geprägten Familie. Raus aus den kriminellen Machenschaften, in die ihn seine beiden älteren Brüder verwickeln, mit denen er gemeinsam Raubüberfälle begeht.
Seine Brüder verheiraten Titli mit einer jungen Frau, Neelu (Shivani Raghuvanshi), die er kaum kennt und mit der ihn doch verbindet, dass auch sie es sich zum Ziel gesetzt hat, dem Dasein als unterdrückte Slumbewohnerin zu entkommen. Der Fluchtpunkt ihrer Sehnsüchte ist jeweils die Skyline der Stadt, die im beständigen Werden begriffen ist, in der Kräne Hochhäuser gen Himmel ziehen, von einer Entwicklung zeugend, die droht, die Menschen an der Peripherie der Städte zu vergessen. Menschen wie Titli und Neelu, die verzweifelt darum kämpfen, ihren Platz in dem neuen Indien zu erhalten, das hier entsteht. Schon die erste Einstellung des Films setzt einen Kontrast zwischen Titlis Kopf, der halbnah von hinten zu sehen ist, und dem im Bau begriffenen Parkhaus eines Einkaufszentrum, in das sich der Junge einkaufen will, um es zu bewirtschaften. 300.000 Rupien braucht er dafür. Titlis Weg von hier nach Hause wird gezeigt als Weg in eine andere Welt, in der der junge Mann mit dem ersten spontanen Gewaltausbruch des Films begrüßt wird. In und an der Skyline arbeitet auch Prince, Neelus Freund, der Bauunternehmer ist und seine Eignung als Projektionsfläche für schmachtende Mädchenphantasien schon im Namen trägt. Die sprechenden Namen der männlichen Figuren geben zugleich Aufschluss über die Perspektivierung des Geschehens. Es sind jeweils die Armen, die Ausgestoßenen, deren Wünsche sich in diesen Namen offenbaren. Es ist ihre Welt, von der dieser Film handelt. Die Wolkenkratzer, bedrohliche und imposante Klötze, wirken in dieser Welt in den Totalen immer wieder wie Fremdkörper, sonderbar entrückt, wie nicht von dieser Welt.
Dem Gesellschaftsportrait, das Behls Film zeichnet, geht es immer wieder um die Kollision gänzlich verschiedener Welten an einem Ort und zu einer Zeit. Da sind die Frauen, die mit den Mitteln der modernen Welt, mit Scheidung, Anwälten und Gerichten gegen das Steinzeitpatriarchat ihrer prügelnden Ehemänner vorgehen. Da ist Titli, der mit seinen sauberen, aber einfachen Klamotten in der eleganten, geschniegelten Welt von Prince‘ Büro und den Appartementhochhäusern, die er baut, wie ein durch und durch Fremder wirkt.
Der Name des Protagonisten suggeriert auch, dass dieser eine Entwicklung durchmachen wird, die Metamorphose von der hässlichen Raupe zum prächtigen Schmetterling. Regisseur Behl erklärt im Interview, dass das ironisch zu verstehen sei, weil Titli eher eine negative Entwicklung durchläuft, bei seinem Kampf darum, der Hölle, in der er lebt, zu entkommen, immer gewalttätiger wird, sich mehr und mehr den Männern anverwandelt, denen er zu entrinnen sucht. Damit ist auch die zentrale Zumutung beschrieben, die „Titli“ für seine Zuschauerschaft bereithält, die dem Jungen, mit dem man sich doch im Rahmen einer against all odds-Geschichte restlos identifizieren soll, dabei zuzusehen, wie er langsam zum Monster wird. Während zu Beginn die Beteiligung an den Carjackings seiner Brüder die eines passiv Zusehenden ist, wendet er gerade in seinem Verhältnis zu Neelu mehr und mehr selbst Gewalt an. Von der versuchten Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht über einige handgreifliche Auseinandersetzungen bis zu der Szene, in der er Neelu betäubt und ihr mit einem Hammer die Hand bricht, um einen Unfall vorzutäuschen.
Es verdankt sich unter anderem dem großartigen Spiel von Hauptdarsteller Shashank Arora, dass dabei immer Ambivalenzen bleiben, dass die Getriebenheit des Jungen, der in dem Moment seiner Heirat gemäß der patriarchalen Ordnung der Familien nicht mehr der Schwächste ist, nicht mehr nur Unterdrückter, sondern nun auch Unterdrücker, immer sichtbar bleibt und er doch zugleich fiebrig nach Allianzen sucht, die diese Gesellschaftsordnung unterwandern. Behl öffnet dabei das Arthauskino zum Genre hin und entwickelt in der Erzählung der tragischen Verstrickungen größte Intensität.
Was Titli und Neelu zum Schluss mehr und mehr verbindet, ist ihre Desillusionierung durch die „bessere Gesellschaft“, die sich als hinterhältig und verlogen erweist. Dass die aus dem gesellschaftlichen Zwang geborene Allianz sich durch eine gemeinsame Erfahrung zu einem gangbaren Ausweg entwickeln kann, ist die Hoffnung, mit der „Titli“ sein Publikum entlässt.