Olivier Assayas macht ein „internationalistisches“ Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im höchsten Maße polyglott und mobil sind. „Carlos“, in dem alleine die Titelfigur fünf Sprachen spricht und sich zwischen gefühlten hundert Schauplätzen hin und her bewegt, bildet nur einen Höhepunkt dieser Tendenz. So sprach schon die Protagonistin in „Clean“ (2004), eine abstinente Süchtige, in Kanada, Paris und London Kantonesisch, Französisch und Englisch. Es scheint, dass es in der Welt des Olivier Assayas, in der die Herkunft eine immer geringere Rolle spielt, eine – gar nicht zwangsläufig negativ gedachte – „Entwurzelung“ um sich greift, umso bedeutender ist es, zu einer klaren Position in der eigenen Biographie zu gelangen. Pathetisch könnte man sagen, dass Assayas‘ ProtagonistInnen angesichts des Verlustes der „Heimat“ keine andere Wahl haben, als sich selbst zu finden.
Nach seinen Ausflügen durch die Zeit- und Popgeschichte mit der Playboy- und Terroristen-Saga 'Carlos' und dem Post-68-Coming-of-Age-Film Die wilde Zeit' kehrt Assayas mit 'Die Wolken von Sils Maria' in die Gegenwart zurück. Die Vergangenheit aber bleibt weiter sein Thema oder, so sagt er es selbst, „unsere Beziehung zur Vergangenheit und zu dem, was sie aus uns macht.“ Damit knüpft Assayas zugleich an „Summer Hours“ an, sein Meisterwerk von 2008, in dem ebenfalls Juliette Binoche mitspielte. Dort gab es entlang einer Erbschaft eine Bestandsaufnahme des Lebens dreier Geschwister, die Konflikte zu bewältigen hatten, die sich aus variierenden Lebensentwürfen im Allgemeinen und aus einer unterschiedlichen Verbundenheit zu Herkunft und Vergangenheit im Besonderen ergaben.
Wie in „Summer Hours“ ist es auch in „Sils Maria“ ein Todesfall, der der Handlung eine erste entscheidende Wendung gibt. Die erfolgreiche Schauspielerin Maria Enders (Binoche) ist mit ihrer Assistentin Valentine (Kristen Stewart) im Zug unterwegs zu einer Preisverleihung zu Ehren ihres Entdeckers und Mentors Wilhelm Melchior in den Schweizer Alpen, als sie von dessen Tod erfährt. Auf der Verleihung trifft Maria nicht nur ihren verhassten Kollegen Hendryk (Hanns Zischler), sondern bekommt auch ein ebenso vielversprechendes wie problematisches Angebot für eine Rolle. Es geht um Melchiors Stück 'Maloja Snake', in dem eine ältere Frau, Helena, eine Obsession für eine jüngere, Sigrid, entwickelt, die sie schließlich in den Suizid treibt. In der Rolle der Sigrid hatte Maria einst ihren Durchbruch. Nun, etliche Jahre später, bietet ein junger Regisseur ihr an, in einer neuen Inszenierung Helena zu spielen. Ihren Widerpart soll Jo-Ann Ellis (Chloe Grace Moretz) geben, ein Hollywood-Starlet, der ein Ruf aus Skandalen, Affären, Gewalttätigkeit und Alkohol am Steuer vorauseilt.
Das Setting in der Kulturindustrie gibt Raum für einige scharfzüngige Seitenhiebe auf den Filmbetrieb der Gegenwart. So geht es einmal um eine Tolstoi-Verfilmung mit deutschen Produzenten – von Binoche mit einem augenrollenden „Who cares?!“ kommentiert – und auch die Schwemme an Superheldenfilmen aus Hollywood bekommt ihr ironisches Fett weg. Außerdem unternimmt Assayas eine kleine Reise durch die Filmgeschichte. Von Arnold Fancks historischem Bergfilm 'Das Wolkenphänomen von Maloja' (1924), über die sich durch einen Berg-Pass schlängelnden Wolken, die dem Stück „Maloja Snake“ den Titel geben, bis hin zu einem fiktiven Science Fiction-Blockbuster mit Jo-Ann Ellis, den sich Maria und Valentine gemeinsam im Kino ansehen – selbstverständlich mit 3D-Brille auf der Nase.
Das Spiel um „reale“ Personen und ihre Medien-Persona will in „Sils Maria“ auf wesentlich mehr hinaus als auf eine einfache Dichotomie von Schein und Sein. Vielmehr sind die medialen Abbilder der Menschen Teil eines Spiels vielfältiger Maskierungen. So macht Maria in ihrer Begegnung mit Hendryk vordergründig gute Miene zum bösen Spiel, während ihr Verhältnis zu ihm in Wirklichkeit doch wesentlich ambivalenter ist, als sie selbst zugeben möchte. Auch das Bad Girl-Image, das die Google-Suche zu Jo-Ann Ellis liefert, passt so gar nicht zu der charmanten, gebildeten und ehrerbietigen jungen Frau, die Maria und Valentine später kennen lernen werden, die dann wiederum gegen Ende, bei den Proben für das Stück, ein ganz anderes Gesicht offenbart.
In seinen Medien-Diskursen scheint „Sils Maria“ auch Anschluss zu finden an zwei andere Filme der laufenden Saison: David Finchers „Gone Girl“ und David Cronenbergs Maps to the Stars'. Besonders augenscheinlich sind die Parallelen zu Cronenbergs satirischer Abrechnung mit dem Zynismus und dem Menschenverschleiß der Traumfabrik. Auch dort gibt es eine alternde Schauspielerin (gespielt von Julianne Moore), die ein Rollenangebot bekommt, das tief in ihrer Biografie verwurzelte Konsequenzen hat. Sie sieht ihre letzte Rettung – nicht nur, was ihre Karriere anbelangt – darin, die Rolle zu spielen, die ihrer Mutter einst jungen Ruhm bescherte. Wo das aber bei Cronenberg nur Teil des Wiederholungszwangs ist, der das Handeln sämtlicher Personen des Films bestimmt, geht es für Maria darum, sich einzugestehen, dass sie nicht mehr die junge Frau von einst ist. Die Chance einer neuen Perspektive auf die Dinge, statt der ewigen Reproduktion des Dysfunktionalen.
Durch Zwischentitel wird der Film in zwei Teile und einen Epilog unterteilt. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die Preisverleihung mit ihren öffentlichen Auftritten im Blitzlichtgewitter. Im zweiten Teil zieht sich der Film zurück zu seinen beiden Protagonistinnen, die im gemeinsamen Sprechen und Lachen eine sehr spezifische Form der Intimität entwickeln. Die unentwirrbare Durchdringung von Beruflichem und Privaten findet ihre Entsprechung in den verzweigten Pfaden der Alpenlandschaft, ebenso wie in den Gesprächen, in denen der eigentliche Text des Stückes, das sie gemeinsam proben, nahtlos in dessen Exegese und persönliche Gespräche übergeht.
„Cruelty is cool, suffering sucks,“ sagt Valentine einmal im Bezug auf die Identifikationsangebote, die das Stück dem Zuschauer mit seinen beiden Frauenfiguren anbietet. Doch Assayas‘ Film lässt sich auf derart zynische Eindeutigkeiten nicht ein. Er bewertet nicht und ergreift keine Partei. In der Beziehung zwischen den beiden Frauen wird es, wie in der von Helena zu Sigrid, um Abhängigkeit, Verlustangst und Trennung gegangen sein. Aber in die vorgefertigten Formen passt sie sich dennoch nie ganz ein. Vielmehr verfestigt sie sich, nimmt Gestalt an, um sich wieder zu verflüchtigen, auseinander zu stieben. Wie die Wolkenschlange im Maloja-Pass – oder einfach wie es zwischenmenschliche Beziehungen nun mal oft zu tun pflegen.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.