Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Seine 'Kroko-Cam' aus 'Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen' war schon für einen der seltsamsten psychedelischen Momente der jüngeren Kinogeschichte verantwortlich. Im Epilog seiner Dokumentation 'Die Höhle der vergessenen Träume' greift Herzog seine neueste Lieblings-Obsession nun wieder auf, wenn er mit einem letzten Nachgedanken von der Chauvet-Höhle in Südfrankreich zu einem mit Reaktorkühlwasser beheizten Tropenpark abschweift, in dem Albino-Alligatoren geboren werden. Doch steckt eine inhärente Logik in der Reptilienperspektive: Auch Herzog betrachtet die Menschen als Außenstehender, der über die absonderlichsten Verbindungen einen Bezug zur Welt herzustellen versucht. Er ist gleichermaßen unermüdlicher Forscher und verstrahlter Weltdeuter. Extreme Orte und menschliche Grenzerfahrungen haben Herzog schon immer fasziniert.
Die Chauvet-Höhle mit ihren Jahrtausende alten Wandbildern liefert ihm schönes Anschauungsmaterial für das mythische Rauschen unter seinen Off-Kommentaren. Als erster Filmemacher überhaupt durfte Herzog diese Zeitkapsel aus einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte betreten. Und die Expedition beflügelt ihn zu hochtrabenden Gedanken. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern sucht er in der Höhle etwas, das sich nicht mit Geräten vermessen lässt: 'die Seele des modernen Menschen'. Wenn Herzog die Millionen von erfassten Daten mit dem Telefonbuch von Manhattan vergleicht, schließt er mit der Feststellung, dass diese Zahlen nichts über die Träume der Urmenschen verraten.
Herzog ist längst mehr Hobby-Anthropologe denn Filmemacher. Er lässt sich in Informationen treiben, um an überraschende Ufer zu gelangen. Diese Neugier verbindet ihn mit dem Archäologen Wulf Hein, der beruflich mit prähistorischen Werkzeugen experimentiert. In 'Die Höhle der vergessenen Träume' spielt Hein im Bärenfell auf einer Knochenflöte die amerikanische Nationalhymne nach, ein bizarrer Moment, der jedoch in Herzogs Reptilienblick wieder schlüssig wird. Der Bärenfellmann stellt unsere Verbindung in die Vergangenheit dar, während die Albino-Krokodile ein Bild aus der Zukunft transportieren. So, scheint Herzog zu sagen, sieht unser Vermächtnis an kommende Generationen aus.
Dieser Text erschien zuerst in: Pony #68