Als handle es sich um eine Lotterie, zieht der Gewerkschaftsvertreter Michel Marteron (Jean-Pierre Darroussin) im Auftrag der Betriebsleitung die Zettel mit den Namen derjenigen Hafenarbeiter aus einer Kiste, die entlassen werden sollen. Zur Rettung der Marseiller Werft sei dies unvermeidlich; und weil man in der französischen Gewerkschaft CGT noch an die unzeitgemäß gewordenen Ideale von Gleichheit und Solidarität glaubt, delegiert man das individuelle Schicksal ohne Ansehung der Person an den Zufall. Dass es dabei den Gewerkschafter selbst trifft, darf man durchaus als Ironie verstehen. Beim jungen Christophe (Grégoire Leprince-Ringuet), der bald darauf zum Antipoden Michels wird, markiert die soziale Not allerdings einen entscheidenden Unterschied.
In Robert Guédiguians neuem Film „Der Schnee am Kilimandscharo“ prallen diese zwei Perspektiven aufeinander und treiben einen Keil ins scheinbar sicher gefügte Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterschaft. Während der arbeitslose Michel von seiner Familie, einer intakten sozialen Gemeinschaft und nicht zuletzt durch wirtschaftliche Rücklagen aufgefangen wird, ist Christophe auf sich allein gestellt. Er muss seine zwei kleinen Brüder versorgen und hat kein Geld. Also wird er zum Dieb; und sein Opfer ist ausgerechnet Michel.
Guédiguian nutzt die sich daraus ergebenden Gewissenskonflikte für eine Ausdifferenzierung des sozialen Bewusstseins. Plötzlich sieht sich der alte Klassenkämpfer in Selbstzweifel verstrickt und empfindet sich als Bourgeois, während Christophe zum anklagenden Anwalt der Unterdrückten wird. Raffiniert und detailgenau entwickelt Guédiguian einen komplexen Konflikt und bleibt dabei als bekennender Linker auf fast märchenhafte Weise seinen alten Idealen treu, indem er ebenso versähnlich wie humorvoll den menschlichen Zusammenhalt der Arbeiterklasse, ihre Hilfsbereitschaft und Milieutreue beschwört.