„Und dann war ich noch froh, dass ich in diesem Film das Rezept meines Martini dry unterbringen konnte.“ Luis Buñuel
Worum geht es hier? Schwer zu sagen. Bliebe nur die Flucht in die Inhaltsangabe … aber was IST denn der Inhalt? Mal überlegen: 6 Großbürgerliche sind zum Essen verabredet. Aber Ort und Zeitpunkt scheinen falsch zu sein. Der Versuch wird wiederholt, mehrfach, ohne rechten Erfolg. Zum Essen kommt es nicht wirklich. Sei es, weil ein Missverständnis vorliegt, sei es, weil alle verhaftet werden, sei es, weil alle erschossen werden, sei es, weil das Treffen nur ein Traum, eher ein Alptraum, war. So ist der ganze Film: Nicht zu entscheiden, ob Traum, oder Pseudorealität (Fiktion), und selbst im Traum immer wieder junge Soldaten, die der Bourgeoisie ihrerseits ihre Träume zum Besten geben, oder von ihrer tragischen Kindheit erzählen („Es wird länger dauern, aber es wird interessant!“).
Absurd und surreal. Ironie und Psycho ohne Analyse. Das Unbewusste lebt. Und es sagt alles, auch wenn Herr Buñuel es nichts erklären lässt. Das Sein ist ein zweckloser Zustand, umso zweckloser das Sein der Bourgeoisie. Das deklarierte, angestrebte Ziel, das Dinner, wird nie erreicht, eine Sättigung, die Auflösung eines leiblichen Bedürfnisses bleibt unerfüllt. Was bleibt, ist der Weg, das Wie. Und meisterlich bringt Buñuel uns nahe: die Codices großbürgerlicher Vornehmheit, Arroganz und Verderbtheit, das nonchalante Arrangement von politischer, klerikaler und militärischer Macht. Es geht darum, zu sein, was man ist, savoir vivre, zu bleiben, wie man ist und wo man ist und hingehört: an die Macht. Morde, mehrere in diesem Film, sind entweder Kavaliersdelikte, Anekdoten der schauerlichen Art, altmodische Kolportage, oder Alpträume – wenn man selbst Opfer politischer Attentate wird. Das Leben der Bourgeoisie ist ein Schauspiel der vornehmen Fassade. In einer der schönsten Szenen öffnet sich hinter der gedeckten Tafel ein Vorhang: dahinter das Publikum, das Essen ist der zu spielende Akt, unsere großbürgerlichen Menschen die Theaterschauspieler – die plötzlich ihren Text vergessen haben und zu schwitzen beginnen.
Gelassene, spielfreudige und brillante Schauspieler verwandeln Buñuels lakonischen Plot in einen schlafwandlerisch stilsicheren Film, der an keiner Stelle einen Aussetzer hat, nie überpointiert oder irgendwie bedeutungsschwanger ist. Ein unbeirrbar weises (und pechschwarzes) Understatement praktiziert der Film in der Sprache seiner Bilder und Figuren, sodass jede neue Pointe den Spaß an der vorigen verdoppelt, in dem Maß, wie jede neue Szene einen weiteren Aspekt der Phänomenologie einer gesellschaftlichen Klasse addiert, weil die filmische Skizzierung durch keine figurellen oder inszenatorischen Fehler ins Stocken gerät. Aus dem idealen Ensemble noch heraus ragt der grandiose Fernando Rey als Kokain schmuggelnder, dauergeiler und schießfreudiger Botschafter der südamerikanischen Bananenrepublik „Miranda“. In einer Gastrolle als befreundeter Justizminister der ihm in nichts nachstehende Michel Piccoli. Militär, Kirche, Polizei, Politik: alle sind sie niedlich vereint in der Bewahrung ihres Status Quo durch Unterdrückung und Korruption. Und sie geben sich kaum Mühe, das zu vertuschen. Die Politik, so der Botschafter, wird schließlich auch nicht durch Diplomatie oder gar Demokratie entschieden, denn sie ist eine militärische Angelegenheit.
Luis Buñuel knüpft mit seinen späten Filmen (u.a.: „Belle de jour“ (1966), „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972), „Diese obskure Objekt der Begierde“ (1977)) bei seinen besten Zeiten an, bei „Ein andalusischer Hund“ (1928) und „Das goldene Zeitalter“ (1930). Doch: Auch wenn Buñuel versucht hat, alle Deutungsversuche seines surrealen Films mithilfe doppelter Böden und verdreifachter Realitätsebenen zu verhindern, so hat er ein wunderbar scharfsichtiges, entlarvendes, komisches und kritisches Portrait abgeliefert von einer Bourgeoisie, die, wenn sie noch nicht abgeknallt wurde, dann heute noch dafür lebt, sich für das nächste Dinner zu präparieren.