Das Langfilmdebüt von Jan Schomburg ist dubios im besten Sinne. Ein Film, dessen Inhalt, will man eine Kritik über ihn schreiben, man unweigerlich verraten müsste, und zugleich ein Inhalt, der, will man ihn beschreiben, forschend zurück guckt und fragt: Geschieht das wirklich, was hier geschieht?
Für jeden Fall zur Absicherung der Rat: Wer sich von „Über uns das All“ komplett überraschen lassen will – und dass dem Film diese Überraschungen komplett gelingen, wird jetzt mal hier garantiert – sollte diese Kritik vielleicht nicht unbedingt lesen. Andererseits verrät diese Kritik nur herzlich wenig vom Inhalt, und von dem, was sie verrät, ist sie selbst nur zum Teil überzeugt, denn Wahrheit und Identität sind ziemlich unzuverlässige Parameter; das zu zeigen, scheint Drehbuchautor und Regisseur Schomburg jedenfalls am Herzen zu liegen.
Ihm ist das Kunststück gelungen, einen Film zu drehen, der fast nie vorhersehbar ist, dem in jedem Augenblick eine unerwartete Wendung unterlaufen könnte, und das nicht, weil die Handlung zu inkohärent, uninspiriert und konfus wäre. „Über uns das All“ schafft hier und da eine Spannung des Augenblicks, in der man Stecknadeln fallen hören könnte, eine inszenatorische Jungfräulichkeit, die zum so geschundenen Wort „Authentizität“ verführt, eine „Authentizität“, die sich aber weniger auf die Wiedergabe eines Milieus oder dergl. bezieht, sondern auf die Rekreation der Anmutung von Realität. Ahem. Kurz Luft geholt.
Bevor sich der Kritiker hier versteigt, muss er noch schnell kritisieren, dass im deutschen Kino der letzten zehn Jahre immer gerne genuschelt wird, das heißt, es wird schnell geredet und undeutlich, sodass man eigentlich nur die Hälfte versteht (manche Schauspieler eignen sich hierfür sogar regelrechte Sprachfehler an). Die Filmemacher von heute sind anscheinend der Meinung, das muss so sein, weil die Leute von heute (besonders die jungen und dynamischen und relaxten) wohl alle angeblich genauso reden. Das Ganze ist aber nur ein Gerücht, und die einzigen Leute, die zu schnell und zu leise reden, gibt es fast ausschließlich nur in Kinofilmen. Irgendein Film hat mal damit angefangen (weiß jemand welcher? Ich bitte um Tipps), und seitdem führen Nuschler in unseren deutschen Filmen ihre Nuschler-Schein-Existenzen und wollen uns glaubhaft machen, dass wir alle so seien und nuscheln, wie sie. Meine Verwandten, Freunde und Bekannten und ich aber sind anders. Wir reden klar und langsam und deutlich, auch auf die Gefahr hin, nicht ganz authentisch zu sein, und wenn mal einer was nicht verstanden hat, dann fragt er noch mal nach. Ganz anders als die Leute in den Filmen, die anscheinend immer jeden ihnen zugehauchten Halbsatz sofort kapieren. Kunststück, die haben ja auch das Drehbuch gelesen. Da können sie ja munter drauflos nuscheln!
So. Und auch in diesen Film haben es manche Nuschler geschafft. Was ihm Punktabzug bringt. Und Sandra Hüller, die Darstellerin der Martha ist manchmal ein wenig zu authentisch, so schnell redet sie dann, und manchmal schrabbt sie an der Grenze zum Overacting entlang. Aber meistens ist sie fantastisch. Alleine für die herzzerreißende Sequenz, in der zwei einigermaßen hilflose Polizistinnen versuchen, ihr verständlich zu machen [SPOILERWARNUNG], dass ihr Mann nicht mehr lebt, lohnt es sich, diesen Film anzusehen.
„Über uns das All“ ist spannend wie ein Krimi und rätselhaft wie ein Psychothriller (falls es derartiges überhaupt noch gibt) oder eine hochgeschlossene Parabel, wobei das Beste ist, dass der Film überhaupt keine Lust hat, sich selbst zu erklären. Er hält seine selbst geschaffene Kryptik (das Wort steht nicht im Duden, ich weiß, sollte es aber) – eine unverhohlene Herausforderung für die Zuschauer – gelassen bis zum Abspann durch, ja, er setzt sogar noch ein Ausrufezeichen hinter das selbst fabrizierte dicke Fragezeichen.
Man könnte nun noch darüber philosophieren, welcher exotische Reiz für deutsche Filmemacher in der französischen Stadt Marseille liegen mag. Der Film „Marseille“ von Angela Schanelec präsentiert die Hafenstadt, ähnlich wie Schomburg, als erhofften Gegenpol oder als Antidot zur meteorologischen und sozialen deutschen Unterkühlung, und gleichsam ins Mythische und schier undurchdringlich Fremde transformiert in „Über uns das All“ eine marseiller Straßenszene, die mit dem selbst gestrickten Frankreich-Klischee der Protagonisten nicht mehr viel zu tun hat.
Man könnte überdies darüber spekulieren, warum Schomburg das Problem eines Menschen, der meint, seiner eigenen Frau jahrelang eine Promotion vortäuschen zu müssen, nicht (wie es zum Beispiel Laurent Cantets Film „Auszeit“ macht) in keinster Weise als leistungsgesellschaftsimmanentes (wenn schon nicht gesellschaftskritisches) Phänomen behandeln möchte, oder darüber, wie es gehen kann, dass eine junge Frau ihren gerade erst verlorenen innig vertrauten Ehemann so schnell durch einen anderen ersetzen kann, der doch, abgesehen von einer identischen Handbewegung, nicht wirklich viel mit dem Verstorbenen gemeinsam hat. Besonders, wenn der erste Mann (Felix Knopp) viel sensibler und sanfter erscheint als der zweite, den der hier zwar gegen sein Schema besetzte und trotzdem starke Georg Friedrich spielt (welchen der Kritiker, ehrlich gesagt, aber immer noch als österreichischen Psychopathen in Filmen von Ulrich Seidl („Hundstage“) oder Michael Glawogger („Contact High“) präferiert).
Doch wie angedeutet, Fragen und Widersprüche lässt der Film zu, provoziert sie gar absichtlich, hält sie aus und bringt sie zur Blüte, die den Kinobesuch überduften wird. Das Starke an „Über uns das All“ ist, dass er aller Skepsis zum Trotz auf seinen Auslassungen, Behauptungen und Wendungen beharrt. Das Gelingen dieser Strategie der Sturheit macht ihn zu „Kunst“ – und Jan Schomburg wohl zu einem neuen deutschen Filmregie-Hoffnungsanwärter.