Die Regeln des Spiels sind denkbar einfach, ja, eigentlich gibt es nur eine einzige Regel. Die besagt, dass es am Ende nur eine/n Überlebende/n geben darf. Hierfür wird eine Schulklasse beim gemeinsamen Ausflug im Bus betäubt, entführt und auf eine einsame Insel verfrachtet. Jeder bekommt als Ausrüstung eine Waffe, wobei sich die Ausrüster nicht nur in ihrer starken militärischen Präsenz als Schicksalsmacht generieren, sondern auch dadurch, dass sie entscheiden, ob man oder frau sich mit einer vollautomatischen Maschinenpistole, einer Sichel oder doch nur einem Fernglas oder einem Topfdeckel in den Kampf stürzen kann. Nun heißt es jeder gegen jede – und sollten beim Ablauf von drei Tagen noch mehr als eine/r der SchülerInnen am Leben sein, detoniert eine Sprengladung in den Halsbändern, die ihnen während ihrer Bewusstlosigkeit angelegt wurden und über die sie auch jederzeit geortet werden können. Gleich zu Beginn demonstriert Oberlehrer (Takeshi) Kitano seine Macht und seine kaltblütige Entschlossenheit, indem er die Schülerzahl erst einmal von 42 auf 40 dezimiert.
Das Motiv der Menschenjagd ist ziemlich alt. Im Kino findet es sich spätestens seit der frühen Tonfilmzeit. Prominent etwa in „The Most Dangerous Game“ von 1932, der von den „King Kong“-Machern Ernest B. Schoedsack (Regie) und Merian C. Cooper (Produktion) stammt, und auf einer Kurzgeschichte beruht, die bereits 1924 erstveröffentlicht wurde. Populär ist dieses Szenarium nicht erst seit dem Erfolg der „Hunger Games“ in Wort und Bild. So verwendete es etwa Stephen King in den frühen Achtzigern in seinem Roman „The Running Man“, der mit Arnold Schwarzenegger verfilmt wurde. Und in den Neunzigern wurde es unter anderem von John Woo in seinem ersten US-amerikanischen Film „Hard Target“ mit Jean-Claude Van Damme spektakulär aufgegriffen, wobei sich auch im Detail einige Anspielungen auf „The Most Dangerous Game“ ausmachen lassen. Längst ist die Menschenjagd ein Stück Populärkultur geworden und wird selbst in „Buffy“ oder den „Simpsons“ aufgegriffen.
„Battle Royale“ ist in vielerlei Hinsicht ein finaler Film, ein Abgesang – auf die Jugend, das Leben, das Kino. Es ist der einundsechzigste und letzte vollendete Kinofilm von Filmemacher, Produzent und Drehbuchautor Kinji Fukasaku, der drei Jahre später während der Dreharbeiten zur Fortsetzung an Krebs starb, so dass sein Sohn Kenta, der hier wie auch schon beim Erstling das Drehbuch geschrieben hatte, den Platz auf dem Regiestuhl übernehmen musste. Einen Namen hatte sich der Vielfilmer, der etwa 1961, dem ersten Jahr seiner Karriere, nicht weniger als fünf Filme gedreht hatte und damit auch als Vater im Geiste eines Takashi Miike gelten kann, vor allem mit Yakuza-Streifen der härteren Gangart wie etwa „Graveyard of Honor“ (1975), der übrigens von Miike 2002 neu verfilmt wurde.
Die Insel, auf die die Schulklasse gegeneinander aufgehetzt wird, spiegelt die, auf der Graf Zaroff bei Schoedsack und Cooper seine Menschenjagd abhielt, wobei es schon eine entscheidende Veränderung ist, dass an die Stelle des aristokratischen Souveräns mit seinen kolonialistischen Wurzeln hier eine Regierungsorganisation tritt, die das „Spiel“ minutiös plant und ausführt und gewissermaßen als pädagogische Maßnahme gegenüber der respektlosen Schülerschaft auffasst. An die Stelle des sadistischen Einzelnen in den Dreißigern ist zur Jahrtausendwende ein, nun ja, System getreten, das von der adoleszenten Grausamkeit zehrt oder zumindest: von ihr zu zehren versucht. Und natürlich ist Takeshi Kitano als Oberlehrer so viel besser als der stocksteife Leslie Banks. Kitano gibt seine Figur mit der Müdigkeit eines Mannes, der immer schon mit allem abgeschlossen hat, von der Welt nichts mehr zu erwarten hat außer den Tod. Und keiner stirbt auf der Leinwand so eindrucksvoll, so überlebensgroß und dabei dennoch banal wie er, nicht nur, aber eben ganz besonders in diesem Film.
Darüber hinaus ist die Insel aber auch ein Ort, an dem viele Traditionslinien des internationalen (Genre-)Kinos zusammenlaufen. Die Fukasakus nehmen etwa den Zynismus eines Paul Verhoeven, und insbesondere wohl dessen „Robocop“, und geben ihm eine ganz eigene Note, überführen ihn letztendlich in eine ganz eigene Form von radikalem Humanismus, der eher ein narrativer als ein formalästhetischer ist und der sich, ganz allgemein gesprochen, in einer bedingungslosen Parteinahme des Films für die jeweils Schwächeren gegenüber den Stärkeren, den Opfern gegenüber den Tätern, den Gepeinigten gegenüber ihren Peinigern niederschlägt. Nicht zuletzt erzählt „Battle Royale“ auch von dem Triumph der Geeks gegenüber den Jooks, der Emos gegenüber den Brutalos. Eine kleine Gruppe von Computernerds schafft es schließlich sogar, den Computer der Organisation zu haken – manchmal ist der Topfdeckel eben doch stärker als die Axt (auch wenn ihre Freude über den errungenen Sieg jäh und grausam beendet wird).
All das soll hingegen nicht bedeuten, dass Fukasaku Kunst als reines Mittel zum Zweck der Bebilderung soziologischer Thesen auffasst. „Battle Royale“ ist ordentlich zupackendes Splatter-Kino, dem man (nicht nur) in den brillant choreographierten shoot outs die gar nicht müde Könnerschaft des alten Meisters mit vierzig Jahren Erfahrung in der Filmindustrie ansieht. Es gibt zwischen den Schülern etwas, das es in der Welt Verhoevens nicht (mehr) geben kann: Solidarität. Viele von ihnen wählen den Freitod als Ausweg, um bei dem grausamen Spiel nicht mitmachen zu müssen. Die Jugend, die der Film porträtiert, ist eindeutig besser als ihr Ruf.
Auch ist der Film aufgebaut wie eine Zwiebel, bei der aus dem typisch japanischen (es bräuchte wahrlich einen größeren Kenner fernöstlicher Kultur als mich, um zu verstehen, wie japanisch dieser Film ist), einer speziellen Form der Überzeichnung, der Komik, des over acting auch, Schicht für Schicht sehr allgemein menschliche Tragödien und Traumata geschält werden. Es geht in den Geschichten der Schülerinnen und Schüler um Verrat, Freundschaft, zärtlich gewachsene Liebe und grausam erwachendes Begehren, peer pressure, Cliquenbildung, soziale Segregation und – natürlich – den (viel zu frühen) Tod. „Battle Royale“ ist ein wahrlich sonderbares, zutiefst eigensinniges Konglomerat aus Actionfilm, Noir und Coming of Age-Geschichte, das eindrucksvoll vorführt, dass fliegende Kugeln kein Alter, keine sozialen Klassen, keine Nationalitäten kennen. Frei nach dem alten Revolverslogan: God made men, but an Uzi makes them equal.
In Deutschland wurde der Film zunächst nur in einer um acht Minuten gekürzten Fassung freigegeben, bei der, was besonders ärgerlich ist, die Texteinblendungen, die den Zuschauenden anzeigen, welche der SchülerInnen getötet wurden und wie viele noch übrig sind, aus dem Bild getilgt wurden, was ein gutes Beispiel dafür ist, wie Zensur, die einen Film eigentlich entschärfen soll, ihn noch zynischer machen kann. Davon abgesehen, dass dieser Countdown Momente der Besinnung im mörderisch hektischen Treiben des Films schafft und deshalb für dessen Rhythmus und Erzählökonomie von entscheidender Bedeutung ist, macht er die Leinwand zu einer Gedenktafel für die adoleszenten Opfer.
Zu allem Überfluss landete dieser Torso dann auch noch auf dem Index, eine ungeschnittene Fassung des Films von Capelight Pictures wurde 2013 bundesweit beschlagnahmt. Ein Urteil, gegen das das Label allerdings juristisch vorging, so dass der Film nur für wenige Monate auf der Liste der bösen Film verweilte, einige Jahre später wurde auch die Indizierung aufgehoben, und nun steht einer mustergültigen DVD/Blu-ray-Edition, die sowohl die Kinofassung als auch den einige Minuten länger laufenden Extended Cut beinhaltet, für die Mediamärkte dieser Republik nichts mehr im Wege. Noch vorbildlicher ist allerdings, dass das Label auch dafür gesorgt hat, dass man den Film in beiden Versionen wieder dort erleben kann, wo Kinofilme hingehören, auf der großen Leinwand.
Dieser Text ist in kürzerer Form bereits bei perlentaucher.de erschienen.