Lawrence Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein ernsthafter, geradliniger Mann. Und gewiss ist er auch ein guter Autofahrer. Nur an diesem einen Tag ist er es nicht. Abgelenkt von einem seiner Studenten, den Larry aus dem Auto heraus auf dem Bürgersteig erspäht, achtet der sonst so gefasste und aufmerksame Familienvater und Mathematikprofessor nicht mehr auf den Verkehr, schon ist es passiert. Handlungen haben nun einmal Konsequenzen. Doch Glück im Unglück bleibt Larry unversehrt. Zur gleichen Zeit fährt auch Sy Ableman (Fred Melamed), Larrys engster Freund und ebenso ernsthafter Mann wie vorbildlicher Autofahrer, mit seinem Wagen durch die Stadt. Im Gegensatz zu Larry konzentriert sich Sy auf den Verkehr, fährt nicht zu schnell, schaut regelmäßig in den Rückspiegel, setzt den Blinker, achtet sehr genau auf nahende Fahrzeuge. Trotzdem wird auch er in einen Unfall verwickelt – in einen für ihn tödlichen, wie wir im weiteren Verlauf des Filmes erfahren sollen.
Diese in „A Serious Man“ parallel erzählten Zwischenfälle veranschaulichen, was der Film der Coen-Brüder verhandelt. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob all unsere Handlungen und daraus entstehenden Konsequenzen dem Zufall unterworfen sind oder ob im Gegenteil alles einem Plan folgt, wir in unseren Aktionen determiniert sind und somit alles erklär-, im besten Fall sogar berechenbar ist. Es ist, wenn man so will, die zentrale Frage des coenschen Gesamtwerkes. Immer wieder lassen die beiden Regisseure ihre kuriosen Figuren an diesem Problem und damit an der Welt scheitern. Oder sie umgeben sie mit einem strengen Regel- und Wertekatalog, der Ordnung ins vermeintliche Chaos bringen soll. Walter Sobchak (John Goodman) sind in „The Big Lebowsky“ (USA 1998; R: Joel & Ethan Coen) Linien deshalb nicht nur auf der Bowlingbahn äußerst wichtig. Und Larry Gopnik versucht in „A Serious Man“ sein Leben unter den Gesetzmäßigkeiten einer mathematische Gleichung zu betrachten. Doch die Welt lässt sich nicht nach „x“ auflösen, ist den Figuren immer einen Schritt voraus. In der Sekunde, in der der Mensch willensfreie Entscheidungen trifft, muss er erkennen, dass manche Dinge dem Zufall zu unterliegen scheinen, dass das Glück unbeständig und die menschliche Handlungsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt sind. Unvereinbar stehen sich im Universum der Coens der gesunde Menschenverstand, Wissenschaft, Religion und Esoterik gegenüber, können miteinander kommunizieren, aber alle Oppositionen am Ende doch nicht aufheben, weil sie den Zufall stets ausklammern. Was den Figuren in ihrer Unsicherheit bleibt, ist die obsessive Befragung der Wirklichkeit und ihr Staunen über den Lauf der Dinge.
In „A serious man“ beginnt dieses Staunen mit einer Bewegung durch den Gehörgang. Langsam kriecht die Kamera aus dem Schwarz in die Handlung des Filmes, den Geräuschen entgegen, dringt die Liedzeile „When the truth is found to be lies“ von Jefferson Airplane ans Trommelfell, welches in diesem Moment nur die Leinwand des Kinos sein kann. Das Ohr wird hier ganz bewusst als Sitz des Gleichgewichtsorgans und Organ des Verstehens inszeniert, geht es doch im Film um eine aus dem Gleichgewicht geratene Hauptfigur, die vom Wunsch nach Selbstbestimmung getrieben und von Fortuna verraten umherirrt und (sprachlich wie kognitiv) die Geschehnisse verstehen will. „You can‘t do the physics without the mathematics“, sagt Larry einmal zu seinem koreanischen Problemstudenten, der nicht begreifen will, dass er erst das eine Fach bestehen muss, um im anderen eine Prüfung ablegen zu können. Es ist ein sehr eng gefasstes Primat des kausalen Zusammenhangs, das Larry Gopnik auf das Leben anwendet. Umso unbegreiflicher bleibt es für Larry, als sein geregeltes Leben mit Reihenhaus, Familie und Chance auf lebenslange Anstellung an der Universität nach und nach aus der gewohnten Ordnung zu fallen droht. Plötzlich will sich seine Frau Judith (Sari Lennick) von ihm scheiden lassen und es mit Larrys Kumpel Sy versuchen. An der Universität tauchen aus dem Nichts Briefe auf, die Larry diskreditieren. Ein Student versucht ihn zu bestechen. Und schließlich muss er aus seinem Haus aus- und in ein Motel einziehen und sich einen Scheidungsanwalt suchen. Dabei hat er nichts verbrochen, keine Fehler gemacht, sich immer ordentlich verhalten, weshalb auch nichts Abwegiges geschehen dürfte.
Alle Schicksalsschläge, die Larry als modernem Hiob ereilen, inszenieren die Coen-Brüder in ihrer bissigen Komödie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Konsequent lassen sie jeden Dialog, der zu Klärungen führen soll, scheitern. Für keines der aufgeworfenen Probleme Larry Gopniks wird eine adäquate Lösung angeboten. Kein Rabbi kann Larry mit sicherem Rat zur Seite stehen. Alle Gespräche mit seinem Anwalt werden durch Zwischenfälle unterbrochen. Und das absurdeste Gespräch von allen mündet nach einem Schlagabtausch, in dem Larry verzweifelt versucht, sich einen offensichtlichen Bestechungsversuch bestätigen zu lassen, in der finalen Antwort des beschuldigten Gegenübers: „Please, accept the mystery.“
Das Leben ist ein Mysterium, an dem Larry Gopnik stellvertretend für uns scheitert. Er selbst beweist das, wenn er in einem Alptraum mit ausgebreiteten Armen vor einer haushohen, bis auf den letzten Zentimeter bekritzelten Tafel steht und verkündet, dass wir nach der Heisenbergschen Unschärferelation niemals genau sagen können, was überhaupt vor sich geht. Und die Coens sind ehrlich genug, zuzugeben, dass auch sie zu keiner Lösung kommen können. Schrödingers Katze ist eben lebendig und tot zugleich. Das Glück kommt und geht und der Mensch muss damit umgehen. Oder anders formuliert: Please, accept the ambiguity. Deshalb kann es auch sein, dass in der Sekunde, da Larry Gopnik Gutes widerfährt und er auf Lebenszeit angestellt wird, eben diese Lebenszeit durch einen Telefonanruf seines Hausarztes in Frage gestellt wird und ein Tornado am Horizont die Ordnung der Welt aus den Angeln zu heben droht. Die Coens spielen in „A Serious Man“ nicht Gott, sondern das Spiel des Lebens selbst: sie sind unberechenbar und voller Fragen an den Lauf der Dinge.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚A Serious Man‘.