Louise Brooks als Thymian: ein stilvolles Engelsantlitz vor einem Samtvorhang, zentral im Bild. Im Gegenschuss: die Bordellmutter (Martha von Kossatzky), sie präsentiert der jungen Frau ein schwarzes, spitzenbesetztes Kleid, lässt es verführerisch durch ihre Hände gleiten. Über Thymians zuvor ernstes Gesicht fliegt ein Lächeln. Es ist eine der vielen Kleidergeschichten, die Georg Wilhelm Pabst in seinen frühen Filmen erzählt. In „Tagebuch einer Verlorenen“ (D 1929) sind es Skizzen aus dem Leben einer immer wieder umkostümierten, zuerst in die Uniform einer Erziehungsanstalt gesteckten, dann als Edelnutte drapierten und zuletzt in die „schlichte Eleganz“ einer Dame der besseren Gesellschaft gehüllten Frau. Wechselnde Milieus und Schauplätze, stets aber verweben und verwickeln sich das Private und das Öffentliche, geht es um verborgene Motive, um Accessoirs und außengelenktes Verhalten.
Thymian, die Neue, wird eingekleidet. Kamerabewegungen und Beleuchtung tauchen die Szene in flimmernde Transparenz, erlauben Blicke durch eine Glastür in den Nebenraum, in dem die männliche Klientel sich vor einigen Mädchen in Positur wirft. Andere werden auf Thymian aufmerksam, nähern sich, bewundern mit ihr (die der Kamera jetzt den Rücken zukehrt) das teure Gewand, das die Matrone noch immer hochhält. Lauter Mädchenrücken bilden plötzlich eine Art „spanischer Wand“, schirmen die Gruppe um Thymian gegen die Blicke der aufmerksam gewordenen Kundschaft hinter der Glastür ab, lassen aber auch uns, die Zuschauer, „außen vor“. Pabst inszeniert das Widerspiel von Öffentlich und Privat auf engstem Raum. Ein Spiel mit dem Sehen – mit dem Vorzeigen und Verbergen des zum Sehen bestimmten Gegenstands – nimmt seinen Lauf.
Die Herren drängeln; sie versuchen, über die Schultern der Mädchen etwas zu erspähen und bilden so, für den Zuschauer, eine zweite Sichtsperre aus Männerrücken. Ein älterer Herr mit Glatze versucht, gebückt zwischen den Hüften zweier Mädchen hindurchkriechend, Zugang zum unsichtbaren Zentrum des Geschehens zu erlangen. Vergebens: ein großer Federfächer schiebt sich, bildfüllend, vor sein Gesicht. Dem Zuschauer vermittelt diese „komische Nummer“ nur, dass auch ein anderer nicht sehen darf, was er selbst nicht wahrnehmen kann. Erst in der folgenden Einstellung öffnet sich das Gewimmel neugieriger Damen und Herren wie ein Vorhang: Man tritt applaudierend einige Schritte zurück und gibt damit auch der Kamera, also dem Blick des Zuschauers im Kino, die Sicht auf Thymian und die lächelnde Matrone frei. Die Zereremonie ist beendet, die „Neue“ ist auf das niedlichste verpuppt, die Anwesenden sind verzückt, gleich wird der Sekt in den Kelchen schäumen.
Darf der (männliche) Kinozuschauer zu Beginn der Szene hoffen, als intimer Beobachter eines weiblichen Ritus ins Vertrauen gezogen zu werden, so sieht er sich im weiteren Verlauf zum gewöhnlichen Bordellbesucher degradiert. Pabst inszeniert die Verpuppung der Frau als Entlarvung des merkantil-männlichen Blicks: jenes taxierenden Blicks, der mit dem Kleid den Körper, mit dem Körper dessen Käuflichkeit assoziiert. Eine Studie des Voyeurismus, die Marktverhältnisse aufdeckt. Die Erörterung der Geschlechterbeziehungen unter dem Druck der Ökonomie verlagert sich auf die Ebene eines listigen Spiels, das die Kamera und eine äußerst präzise Montage mit den männlich disponierten Erwartungen treiben. Pabst, schreibt Louise Brooks fast ein halbes Jahrhundert später, sei ein Regisseur der „gewitzten Perversität“ gewesen, mit einer Neigung zum Ballett.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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