Nach ihrem Meisterwerk „Souvenirs de l’empire de l’atome“ (dt.: Das Imperium des Atoms, erschienen bei Carlsen) von 2013 durfte man gespannt sein auf die nächste Zusammenarbeit zwischen dem Szenaristen Thierry Smolderen und dem Zeichner Alexandre Clérisse. Und wie schon in ihrem Vorgänger ist auch dieser neue Comic-Roman „L’été diabolik“ (dt. Ein diabolischer Sommer, ebenfalls Carlsen) eine Hommage und zugleich zeitgenössische Revision der Bildwelten vergangener Popkultur. Im „Imperium des Atoms“ hatten die Science-Fiction-Träume aus Kioskromanen der Fünfziger Jahre und deren melancholische Hintergrundgeschichte den Anlass gegeben, hier nun wird in den Erinnerungen an die delirierenden Pulp-Comics der Sechziger Jahre um maskierte Schurken und deren düsterer Erotik geschwelgt. Allen voran ist es natürlich (und wie die merkwürdige Schreibweise des französischen Titels bereits klar macht) Diabolik, der böse Held aus den italienischen Comics der beiden Schwestern Angela und Luciana Giussani, der als teuflischer Schutzpatron über dem Geschehen thront und dessen hypnotischer Blick einem schon vom Cover des Comic-Bandes entgegenstarrt. Der Blick wird einen auch später nicht loslassen. „Ein Mann schaut in den Rückspiegel seines Autos und sieht in jenem Wagen, der ihn verfolgt, die Augen des maskierten Diabolik hinter dem Steuer“ – mit dieser Vision, so sagt der Autor Thierry Smolderen, hat alles angefangen, eine Vision, die ihm dann später auch in Mario Bavas psychedelischer Diabolik-Verfilmung von 1968 wiederbegegnet ist.
Rückspiegelungen – darum geht es, im konkreten wie übertragenen Sinn und auf allen Ebenen. Nicht nur dass der „L’été diabolik“ Rückschau auf die Comics der Sechziger hält, auch seine Geschichte ist die einer konstanten Revision: „Combien de fois ai-je passé cette journée en revue depuis l’été 67…“ – damit setzt die Erzählung des Protagonisten Antoine Lafarge ein. Sein Bericht ist eine Erzählung im Rückspiegel, en revue, in Erinnerung an die Geschichte eines fatalen, teuflischen Sommers voll von verbrecherischer Lust und Angst. Es ist der Sommer, in dem Antoine die eigene Sexualität erkundet und die Abgründe der anderen Personen. Ein Sommer, in dem man sich selbst und alles andere neu gespiegelt sah. Rückspiegelung über Rückspiegelung. Und auch diese retrospektive Erzählung selbst wird später in einem Epilog erneut der Revision unterzogen und mit ihr schließlich alles, was Antoine über diesen Sommer, über sich und seine Familie zu wissen glaubte. Diese Frage nach der Familie und der ungewissen, in Revisionen sich auflösender, Genealogie stellt hinter den grellen Maskeraden einer rasanten Kriminal- und Sexgeschichte denn auch das heimliche Zentrum dieser Rückspiegelungsgeschichte dar. Jenseits aller explosiver Action geht es auch, und vielleicht vor allem, um eine recht alltägliche und ziemlich traurige Geschichte von Vätern und Söhnen und deren rätselhaften Verhältnissen. Das findet sich übrigens auch im Geschöpf Diabolik verkörpert: als Mann ohne Gesicht, der in seinen Abenteuern laufend die Identität wechseln kann, ist er zugleich auch frei von allen familiären Zusammenhängen. Diabolik hat keine Eltern und keine Kinder, kennt keinen Anfang und kein Ende, keine Jugend und kein Alter. Diabolik ist da – so wie der Trieb bei Freud, der weder Zeit noch Negation kennt. Doch zugleich hat das Triebwesen Diabolik freilich eine ganze Reihe von Vätern, wie auch Thierry Smolderen im Nachwort von „L’été diabolik“ hinweist. Natürlich ist Diabolik ein Nachfahre von Fantômas und Arsène Lupin und von all den maskierten Helden der US-Comics. „Die leere Maske des Phantoms springt problemlos von Kontinent zu Kontinent“, schreibt Smolderen. Genealogie entpuppt sich als Vererbung einer Verkleidung. Darum kann Diabolik niemals sterben: weil er nur eine Maske ist, die man sich überziehen kann. Die Haut wird zur Substanz.
Auch die sagenhaften Zeichnungen von Alexandre Clérisse in diesem Band sind solche Maskenhäute – flächig und ohne Tiefe, in denen man sich gerade deswegen so komplett verlieren kann. Jede Seite und jedes Panel ist für sich schon ein wunderbarer Druck, den man ausschneiden, an die Wand hängen und immer wieder betrachten möchte. Da kann es einem passieren, dass man den Faden der Handlung verliert, weil man einzig dem Genuss der Bilder nachgeht. Wer sich so in der Betrachtung der untiefen Bilder versucht, macht es wohl genau richtig. Zum Trieb, den Diabolik verkörpert, gehört ja schließlich auch, vom Pfad einer zielgerichteten Lektüre abschweifen zu können. Der Trieb ist nicht kohärent, er diffundiert. Er geht in alle Richtungen. Auf manchen Seiten zeichnet Clérisse wie die Figuren sich durch ihre extravaganten Häuser bewegen als ein einziges großes Bild. Die Architektur wird in der Zeichnung zum Escher-Raum, wo oben und unten, hinten und vorne nicht mehr recht aufgehen. Der gezeichnete Raum ein verdrehtes Labyrinth. Und wenn in der Mitte des Bandes, im Zusammenhang mit Antoines ersten LSD-Erfahrungen, die Bilder vollends zu delirieren beginnen, die Panels wabern und der Text in Kaugummischrift aufgeblasen wird, dann steigert das nur ins Extrem, wie es einem auch auf den anderen Buchseiten gehen kann. Selbst wenn man nichts vom Text verstehen würde und nur die Bilder bewundert, hat man schon mehr als genug mitbekommen. Ähnlich, wie man auch die alten Diabolik-Comics bewundern kann, ohne ein einziges Wort Italienisch zu sprechen.
Die Bilder illustrieren nicht, so wenig wie der Text die Bilder beschreibt. Die Bilder erzählen mit, anders und in Spiegelungen, die man zu entdecken hat. Wenn Antoines Vater sich ein Glas Wasser füllt und damit nach oben in sein Zimmer geht, erkennen wir das Motiv des leuchtenden Glases in seiner Hand auf der dunklen Treppe wieder als jenes giftige Glas Milch in Alfred Hitchcocks „Suspicion“ und der Mann mit der Kamera, der den Attentäter auf dem Hügel filmt, erkennen wir früher als er sich selbst als Abraham Zapruder. So nehmen die Bilder vorweg, was Antoines Bericht wieder wird revidieren müssen und umgekehrt. So wie man nach vorne in einen Rückspiegel schaut, der vor meinen Augen zeigt, was hinter meinem Rücken passiert. Wahrlich ein diabolischer Genuss.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmbulletin
Thierry Smolderen, Alexandre Clérisse: „Ein diabolischer Sommer“
Carlsen, Hamburg 2016, 128 Seiten, 24,99 Euro
(Alle Bilder: © Carlsen Verlag)