Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“.
Ulrich Kriest: Herr Spielmann, Sie unterrichten an der Wiener Filmakademie das Drehbuchschreiben, was ich insofern bemerkenswert finde, weil ich gerade im Drehbuch die große Stärke von „Oktober November“ erkenne. Der Film ist unerhört dicht, voller motivischer Signale, Echos, Doppelungen und Spiegelungen – fast wie eine angeregte Diskussion voller neuer, wiederholter, variierter Ideen. Wie erzählt man solch eine komplexe Konstellation von Figuren, ohne die Zuschauer zu unter- oder überfordern. Wie geht man an ein solches Projekt heran?
Götz Spielmann: Das war tatsächlich die größte Herausforderung, den komplexen Stoff in eine schlüssige, dichte Erzählung zu bringen. Ich wollte einen Film machen, der dem Leben möglichst nahe kommt, das war mein Ausgangspunkt, mich dem erzählerisch zu nähern, was ich als Essenz des Lebens spüre. Wenn man das so ausspricht, klingt es banal, aber genau so war es. Das Erzählen heute folgt sehr oft, auch im Arthaus-Film, der immer gleichen dramatischen Struktur, der sogenannte „klassischen“ Dramaturgie. Ich wollte davon unabhängig erzählen, nicht nach der Schablone, sondern radikal, frei. Das war mein Beginn. Es war überraschend schwierig, das eigene Können beiseite zu schieben.
In ihrem Film fallen Sätze wie „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist!“ oder „Du bist nicht das, was du denkst!“ Geben solche Sätze den Kammerton ihres Films vor?
Vielleicht sind da und dort ein paar gedankliche Hinweise versteckt, wie man die Geschichte betrachten oder deuten könnte. Bei manchen mögen diese Sätze etwas zum Klingen bringen.
Mir schien der Aspekt wichtig, dass man sich seiner Biografie nur durch Sprache versichern kann. Man erzählt sich Geschichten, Erinnerungen und hofft darauf, dass sich mit dem Gegenüber eine Kongruenz herstellen lässt. Bei den beiden Schwestern gelingt das ganz lange nicht.
Ich würde vorschlagen, hier statt von Biografie von Identität zu sprechen. Der Film stellt die Frage nach unserer Identität, anhand von den Lebensläufen einiger Figuren, mir den beiden Schwestern im Zentrum. Ob man sich derer nur durch Sprache versichern kann? Ich weiß nicht… Vielleicht ist es ja gerade die Sprache, ihr Definitionszwang, der uns unsere Identität verschleiert. Könnte ja sein.
Im Presseheft finden sich dazu ein paar Fragen: Wer bin ich? Bin ich das, was ich sein will? Warum bin ich so, wie ich bin? Bin ich das, was ich sein kann? Insbesondere die letzte Frage ist ja geradezu philosophisch. Ihre Filme bestechen durch eine ungewöhnliche Verbindlichkeit. Sie wirken auf mich durchdacht, aber fragend.
Das freut mich, wenn das so spürbar wird. Ich glaube fundamental an genau gestellte Fragen. Sie sind die eigentliche, tiefe Bedeutung des Erzählens, von Kunst überhaupt. Und je genauer und umfassender die Frage gestellt ist, desto verbindlicher ist sie auch. Dann setzt sie etwas in Gang, in Bewegung, generiert Reaktion, Veränderung. Die genaue Frage ist weitaus radikaler als die sogenannte „Gesellschaftskritik“, die derzeitige Kunst häufig so unverbindlich absondert.
Wenn Verena an der Bücherwand des Arztes entlang geht, sagt sie, dass sie zu wenig gelesen habe. Und dann: „Das kann man ja noch ändern!“ Ist sie da zu optimistisch?
Ach, wer weiß. Veränderung ist ja möglich und nicht unbedingt nur Illusion. Ich jedenfalls bin kein Fatalist.
Man tut als Zuschauer gut daran, den Figuren nicht nur zuzuhören, sondern ihnen auch beim Spiel genau zuzuschauen. Es wird nicht immer alles ausgesprochen, was zwischen den Figuren mitschwingt. In der ersten Szene der Begegnung zwischen den Schwestern erzählt die Art und Weise, wie sie sich zueinander oder besser gegeneinander setzen, mehr über ihr Verhältnis als die Worte, die sie wechseln. Wie haben Sie diese Intensität hergestellt?
Das betrifft den ganzen Arbeitsprozess, das Drehbuch, die Proben mit den Schauspielern, die gemeinsame Arbeit an den Figuren, ihren Beziehungen, ihren Vorgeschichten, und zuletzt die Arbeit am Set. „Oktober November“ ist episch erzähltes Kino, allerdings ohne den Aufwand, den episches Erzählen normalerweise treibt. Ein episches Kammerspiel, könnte man sagen. Nicht getrieben vom üblichen Plot, der, wenn er funktioniert, manche Ungenauigkeit verzeiht. Wir wussten, dass wir in jeder Szene ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit erreichen müssen, damit sie überhaupt Sinn macht. Der Film braucht diese Intensität des Schauspiels, weil er sonst auseinanderfällt. Ein hohes Risiko natürlich.
Etwas aus dem Rahmen fällt meines Erachtens die Figur des David, mit dem Sonja offenbar kurzzeitig ein Verhältnis hatte. David scheint mir ein konventionelle Funktionsfigur, die zunächst dazu dient, Sonjas Einsamkeit und Depression ins Spiel zu bringen.
Andererseits ist er ja durch die Begegnung mit Sonja verändert worden, in eine Art Wahrhaftigkeit gefallen, gibt seine Ehe preis, weil er dort Kälte und Gleichgültigkeit findet und nicht mehr aushält.
Was ja auch auf Sonja gemünzt sein könnte, die ja in der Öffentlichkeit immer eine professionelle Maske aufhat.
Ja, sie hat eine öffentliche, professionelle Identität. Eine Fassade, hinter der sich viel Ratlosigkeit, Leere und Traurigkeit verbirgt.
Der Ehebruch wird im Film gleich mehrfach gespiegelt, in der Ehe der Eltern, in der Ehe zwischen Verena und Michael. Der Film registriert das, wertet aber nicht.
Natürlich nicht. Ich habe ja weder ein Weltbild zu verkünden noch eine Ideologie noch eine Moral. Bin weder Politiker noch Priester. Ich erzähle Geschichten. Der Zuschauer braucht keine Belehrung, wie er dies oder jenes zu bewerten habe.
Eine etwas rätselhafte Figur erscheint mir der Landarzt, der in mehrfacher Hinsicht – als Arzt und Mann – mit der Familie konfrontiert wird. Mich hat diese Figur an bestimmte Dramen des Naturalismus erinnert, wo ja auch immer ein Beobachter von Außen hinzukommt. Ist der Landarzt im Film der Stellvertreter des Erzählers?
Möglich, er ist ja auch, wie Sie sagen, Beobachter, wie der Regisseur auch. Aber das sind keine bewusst gesetzten Zusammenhänge.
Diese Figur wird als Einsiedler eingeführt, dem – neben dem Beruf – die Bücher und die Musik genügen. Der Arzt scheint mit seiner Empathie geradezu weise und strahlt eine große Ruhe aus. Besonders überrascht: die Figur kommt damit durch, wird nicht gebrochen.
(lacht) Ja, im Zeitalter des „kritischen Bewusstseins“ mag es merkwürdig sein, wenn man von Figuren erzählt, deren Leben einigermaßen in Ordnung ist, einfach so. Es war übrigens schwierig zu besetzen, denn die Figur braucht gelassenes Charisma, um zu funktionieren. Ich bin sehr froh, dass Sebastian Koch diese Rolle übernommen hat.
An dem Arzt beißt sich die geübte Flirtmaschine Sonja die Zähne aus. Er lässt sie ziemlich kühl abblitzen.
Er durchschaut ihr Spiel und legt den Finger auf ihre Wunde, wenn er sie fragt: „Bewundert und geliebt werden? Geht das überhaupt zusammen?“ Sie erschrickt, als er diese Frage stellt. Eine Illusion wird ihr plötzlich sichtbar.
Sonja bekommt im Lauf des Films gewissermaßen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie, die ohnehin eine schwach ausgebildete Identität hatte, verliert diese auch noch durch die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses. Ist das als eine Chance zu werten?
Ich denke es mir so, ja. Illusionen, Irrtümer abzulegen ist erst einmal schmerzhaft, die Ent-Täuschung tut weh. Aber danach lebt es sich besser.
Die Begegnung zwischen Sonja und dem Landarzt findet unmittelbar nach einer Begegnung Sonjas mit einer Gruppe von Pilgern auf einem Berggipfel statt. Hier lässt sich der Film Zeit für ein Vaterunser. Dass der Vater sich nach der Nahtod-Erfahrung so stark verändert, wird von Verena einmal mit der Bemerkung „Vielleicht ist er ja religiös geworden?“ kommentiert. Auf dem Krankenbett spottet wiederum der Vater über die Pilger: „Die Leute suchen nach etwas und marschieren in der Gegend herum. Dabei braucht man gar nicht suchen. Es ist alles da und gut so, wie es ist.“ Welche Rolle spielt bei der Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage die Spiritualität? Darf man diese Spur auch auf den Filmemacher Götz Spielmann beziehen?
Die Frage nach unserer Identität lässt sich ja nur sinnvoll stellen, wenn wir die größte Gewissheit unseres Lebens einbeziehen: dass es endlich ist, dass wir sterblich sind. Da kommt man ja ganz von selbst auch auf spirituelle Fragen und Ebenen, weil diese Tatsache vom Verstand nicht zu begreifen ist. Er muss überschritten werden, will man auf dieser Ebene lebendig bleiben. Nichts anderes ist Spiritualität. Sie steht nicht im Gegensatz zu Vernunft und Intellekt, sondern findet dort statt, wo der Intellekt nicht hinreicht. Kunst ist doch überhaupt erst dann relevant, wenn sie auch eine spirituelle Ebene hat. Wo die fehlt, ist es bloß bebilderte Ideologie für eingeweihte Konsumgruppen, die sich wechselweise ihre Urteile und Vorurteile bestätigen. Kann man ja bei den großen Festivals gut beobachten.
Bleibt noch eine abschließende Anmerkung! Sie zeigen ja durchaus ausführlich auch die Schauspielerin Sonja bei der Arbeit, indem Se Bilder von Dreharbeiten zeigen, die gewissermaßen einerseits Sonjas Professionalität belegen, andererseits aber auch wie ein Brecht’scher Verfremdungseffekt funktionieren. Das fand ich unerhört riskant, weil es dem Film doch gerade um die Erzeugung darstellerischer Intensität geht, gerade auch (aber nicht nur), wenn das lange, mühselige Sterben des Vaters gezeigt wird. Diese Szene sind ja genau so »gemacht« wie die Fernsehkrimi-Szenen, aber man vergisst das ganz schnell wieder. Hier hätte der ganze Film scheitern können. So, wie er jetzt gelungen ist. Waren Sie sich dieses Risikos bewusst?
Ja sehr, natürlich. Wenn man mittelmäßiges Filmemachen im Film zeigt, forciert man eine kritische Wachheit des Zuschauers. Um die geht es mir aber grundsätzlich. Ich habe zwar das Ziel, emotionales Kino zu machen, aber eines, das den Zuschauer nicht manipuliert, auch nicht durch Kitsch, sondern das ihm die Freiheit lässt, bei aller Emotion immer auch bei sich selbst zu bleiben.