Lange verharrt der Kamerablick auf einem kargen Flurstück, das sich im herbstlichen Nebel verliert, während zarte Mundharmonikaklänge die leise Melancholie verstärken. In die entfärbten Bilder einer verlassenen Landschaft mischen sich bald wechselnde Stimmen, die aus dem Off vom ehemaligen Psychiatrie-Patienten und Einsiedler Ernst Otto Karl Grassmé berichten Dieser hat nach seiner Entlassung aus der Anstalt über viele Jahre allein und zurückgezogen in einem Torfmoor von Schleswig-Holstein gelebt. „Es ist anders Stille hier“, schreibt er in einem seiner Briefe, die er unter anderem an ein Mädchen aus der Nachbarschaft namens Katja richtet.
In Kai Ehlers sehr konzentriertem, auf wenige Schauplätze verdichteten Dokumentarfilm „Freistaat Mittelpunkt“ formt sich das Portrait Grassmés (1912-1991) aus Selbstzeugnissen und behördlichen Akten, aus persönlich Empfundenem und öffentlich Verzeichnetem. Die Inszenierung des nachgelassenen Materials folgt allerdings keiner zeitlichen Chronologie, sondern vielmehr einer dialektischen Bewegung, in der Subjektives und vermeintlich Objektives in einen wechselseitigen Dialog treten und sich gegenseitig kommentieren. Verstärkt wird dieses ästhetische Verfahren noch durch Bilder, die keinen direkten, sondern einen mehr räumlichen und assoziativen Zusammenhang herstellen und so auf die Imaginationskraft der Zuschauer vertrauen.
Während Ernst Grassmé von seiner Zeit als Maurer und Fotograf erzählt sowie von seinen Aufenthalten in der Psychiatrie, wo er unter den Nazis im Namen der sogenannten „Erbgesundheit“ zwangssterilisiert wurde, erforscht die Kamera den ländlichen Raum aus Moor-Landschaft, Wiesen, Wald und Gleisübergängen. Die Melodie des Liedes „Kein schöner Land“ klingt dazu einmal an. Doch die objektivierte Mensch- und Naturbeschreibung, die das Gesprochene kontrapunktiert, ist keine ungebrochene. Ein Mädchen spaziert mit einer Kuh über die Wiesen, Bäume werden gefällt, eine Jagdgesellschaft versammelt sich, eine alte Frau schlachtet und rupft Hühner. Dazu erinnert sich Grassmé an die Zwangsmaßnahmen, die er für die Volksgesundheit in der Psychiatrie erleiden musste. Die bittere Klage über eine verlorene Sexualität und ein geraubtes Leben spricht aus seinen Worten.
Was ist normal und wo beginnt die Abweichung oder Krankheit?, fragt der Film in der behutsamen Annäherung an seinen Protagonisten. Ist es Größenwahn oder eine listige Ironie, wenn sich Ernst Grassmé als gläubiger Adventist „Reichsbundesbischof“ oder auch „Märtyrerkönig“ nennt? Im Sprachfluss seiner warmherzigen, teils poetischen Briefe gibt es immer wieder kleine Risse, gedankliche Sprünge und Verschiebungen ins Wunderliche. Nach dem Krieg und nach seiner Entlassung wirken die psychiatrischen Befunde der Nazis noch lange nach. Über Jahrzehnte hinweg verweigert man Grassmé eine Entschädigung. Nur in seiner Einsiedlerhütte kann er, so scheint es, relativ selbstbestimmt für und bei sich sein; wobei für ihn vor allem das Schreiben zu einem Mittel der Kompensation wird.
Kai Ehlers sorgfältig komponierter, ebenso offener wie vielschichtiger Film und das diesem angeschlossene umfangreiche Online-Archiv bewahren Ernst Grassmé vor dem Vergessen und stellen wichtige Fragen an uns alle.