Seit mittlerweile 20 Jahren schaut der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter, der zugleich auch immer Kameramann seiner Filme ist, auf Orte, die sich unserer Wahrnehmung entziehen oder die wir bewusst ausblenden. Hinter der oberflächlich recht einfachen Frage danach, wie es „Elsewhere“ (AT 2001) aussieht, steckt häufig die tief greifende Auseinandersetzung mit den Formen menschlichen Zusammenlebens und damit verbundener Verdrängungsleistungen. „Unser täglich Brot“ (AT 2005) ruft die Abkopplung von Lebensmittelproduktion und -konsumption ins Gedächtnis. „Abendland“ (AT 2011) fragt nach den gern verschwiegenen inneren und äußeren Grenzen der offenen Gesellschaft westlichen Typs. In „Homo Sapiens“ lässt Geyrhalter den Menschen nun gleich ganz verschwinden, um in den Hinterlassenschaften der Zivilisation nach den Grundideen und Organisationsweisen dieser Gesellschaft zu suchen.
In den festen Einstellungen, die verlassene Kindergärten, Shopping-Malls, Krematorien, Versammlungsräume und Kinos zeigen und die der Regisseur jeweils zwischen zwanzig und vierzig Sekunden stehen lässt, kann die Zuschauerin die eigene Abwesenheit erkunden, die eigene, noch nicht vollendete Geschichte zu Ende denken. Im gleichmäßigen Fluss der Bilder, die ganz ohne Dialoge oder Kommentare auskommen, schweifen die Gedanken ab und öffnen den gedanklichen Raum für eine Welt ohne uns. Und auf einmal steht da eine Achterbahn mitten im Wasser, das dünne Metallgerüst verbogen, jederzeit bereit in sich zusammenzufallen. Doch nichts geschieht. Geyrhalter suspendiert in seinen eindrucksvollen Bildern, von denen jedes als Druck über der Wohnzimmercouch hängen könnte, jede erzählerische wie physische Bewegung. So sind es dann die kleinen Regungen der zivilisatorischen Überreste, die besonders irritieren, irgendwann zu schmerzen beginnen und schließlich so etwas wie ein apokalyptisches Gefühl evozieren. Im Krankenhaus spielt der Wind mit einer Plastiktüte, in der Kaufhauspassage mit einer Rolle Klopapier. Es sind perfekte Kompositionen, die davon erzählen, dass der Mensch die Katastrophe selbst verschuldet haben wird und dass der Klopapierrolle wie dem umgestürzten Baum im Indoor-Spaßbad unsere Abwesenheit reichlich egal sein werden.
Doch so sehr sich die Inszenierung darum bemüht ein Gefühl für einen vom Menschen entleerten Planeten zu erzeugen, so sehr ist der Mensch doch anwesend, wird vom Film selbst immer mitgedacht und vorausgesetzt. Denn wie in jedem Film des Österreichers, geht es auch in „Homo Spiens“ nicht um Orte, sondern deren (ehemalige) Bewohnerinnen. Bereits im Filmtitel und den ersten Einstellungen, die Abbilder des Menschen in einem verfallenden Mosaik zeigen, macht Geyrhalter dies selbst deutlich. Und gerade in den perfekten Bildkompositionen bricht sich die vermeintliche objektive Distanz, wird offensichtlich, dass jemand anwesend ist an diesen menschengemachten und von ihm verlassenen Orten. Auf die gleiche Weise wie in den Katastrophenszenarien dieser Tage, unserem Wunsch nach Sicherheit und den damit verbundenen Präventionsmaßnahmen (die mancherorts in Entmündigung umschlagen), Fiktion und Wirklichkeit beständig ineinander greifen, bildet „Homo Sapiens“ diesen Vorgang filmisch ab, indem der Zuschauer in eine zwiespältige (anwesende und zugleich abwesende) Position gerückt wird. Der Film veranschaulicht damit das Paradox, dass wir in ständiger Alarmbereitschaft leben, Dauerkrisen uns umgeben, wir aber nicht nur unfähig sind zu handeln, sondern im Gegenteil große Verdrängungsarbeit leisten. Die Katastrophe besteht in der Tatsache, dass wir einfach weitermachen wie bisher. Die zukünftige Katastrophe wird in „Homo Sapiens“ deshalb mithilfe bereits geschehener Katastrophen erzählt. Und natürlich erkennt das Publikum in vielen Bildern reale Katastrophenorte wie Fukushima oder Pripyat wieder oder interpretiert sie in diese hinein.
Zusätzlich dazu unterbricht Geyrhalter in regelmäßigen Abständen mit Schwarzfilm barsch den postapokalyptischen Bilderreigen. Dieser unterteilt die Orte grob, akzentuiert, fungiert jedoch nicht als rein ordnende Instanz, teilt den Film nicht in klare Kapitel. Er betont vielmehr den Zwischenraum. Im Schwarz stirbt die Erzählung und damit das Fortkommen. Zugleich macht das Schwarz dem Zuschauer den Film als Film bewusst und damit seine Rolle als Zuschauer. Wieder wird in diesen Momenten die Abwesenheit des Menschen in „Homo Sapiens“ verunmöglicht und betont, dass diese nur von ihm selbst gedacht werden kann. Das hypothetische Zukunftsszenario Nikolaus Geyrhalters blickt in diesen Momenten auf die Gegenwart zurück und macht uns zu Komplizen der künftigen Katastrophe, die darin besteht, dass es kein plötzliches Ereignis geben wird, welches die Welt in den Abgrund rutschen lässt. Der Schwarzfilm betont noch einmal, weil er an die Dunkelheit des Kinos kurz vor und nach einem Film erinnert, dass „Homo Sapiens“ keinen natürlichen Anfang und kein natürliches Ende besitzt und eine Katastrophe ohne Ereignis bebildert, an der wir stillschweigend teilnehmen.
„Homo Sapiens“ ist bisher nicht in den deutschen Kinos gestartet und wird es aller Voraussicht nach auch nicht mehr. Das ist traurig, denn Geyrhalters fotografische Virtuosität und das präzise Sounddesign, das die Stille durch gezielt gesetzte Naturgeräusche erst so außerordentlich bedrückend macht, gehören auf die große Leinwand, können nur dort ihre Wirkung entfalten und die Zuschauerin in einen Zustand irritierter Kontemplation versetzen.