Jenny Davin (Adèle Haenel) ist eine junge, engagierte Ärztin, die einen älteren, erkrankten Kollegen in seiner kassenärztlichen Praxis vertritt. Die Patienten in dem an der Maas gelegenen Bezirk von Seraing bringen zusätzlich zu ihren Krankheiten oft noch ihre sozialen Probleme mit. Denn im Grunde ist beides eng miteinander verflochten. Der Körper repräsentiert die sozialen Abdrücke der Seele. Die Symptomatik psychosomatischer Reaktionen und deren „Lösung“ ist insofern auch ein Leitmotiv des sehr eindrucksvollen Films „Das unbekannte Mädchen“ (La fille inconnue) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Immer wieder zeigen die Körper etwas an, was Scham und Angst verzweifelt zurückzuhalten versuchen. Sehr genau und konzentriert filmen die Brüder Dardenne deshalb die Bewegungen der Körper bis hin zu dem Punkt, an dem diese ihren Widerstand aufgeben oder zusammenbrechen, um sich dem Sprechen zu öffnen.
Die bei ihren Patienten beliebte Ärztin arbeitet gewissenhaft und mit wenig geregelten Zeiten, so dass Arbeit und Privatleben fast identisch erscheinen. Obwohl sie als Nachfolgerin die Praxis übernehmen könnte, erwägt Jenny, in ein Ärzte-Zentrum einzutreten. Einmal kommt es aus einer Stresssituation heraus zu einem Konflikt mit ihrem sensiblen Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud). Ein Anflug von Machtdemonstration auf der einen Seite und die Reaktivierung einer traumatischen Gewalterfahrung auf der anderen korrelieren auf fatale Weise, als es lange nach Schließung der Praxis an der Tür klingelt. Mehr impulsiv als überlegt verbietet die Ärztin dem Medizinstudenten, diese zu öffnen. Als sie schließlich am nächsten Tag von der Polizei erfährt, dass es sich vermutlich um eine Hilfesuchende handelte, die später tot am Flussufer aufgefunden wurde, entwickelt Jenny Schuldgefühle. Diese veranlassen sie dazu, nach der Identität des anonymen Opfers, einer jungen schwarzafrikanischen Frau, zu ermitteln. Zudem entschließt sie sich doch zur Übernahme der Praxis.
„Wäre sie tot, würden wir nicht ständig an sie denken“, formuliert Jenny Davin einmal die Schuldgefühle, die bald weitere Kreise ziehen und sich in einem komplizierten Geflecht zusammenschließen. Mit einem differenzierten Blick auf eine verzweigte Wirklichkeit zeigen die belgischen Filmemacher die mitunter tragischen Wirkungen von zufälligen Details. Aus diesen Spuren wiederum entwickeln sie Zusammenhänge, in denen die Individuen als Opfer und Gefangene der sozialen und gesellschaftlichen Umstände erscheinen. Der Einzelne birgt in sich seine je eigene (Leidens)geschichte, die den anderen verborgen ist und zugleich sein Handeln lenkt. Der sehr intensive, ehrliche und humane Film der Brüder Dardenne, der immer nah bei seiner Heldin ist, bleibt aber bei dieser Analyse nicht stehen; vielmehr ruft er seine Figuren in die Selbstverantwortung und bringt sie schließlich auf emotional bewegende Weise zum Sprechen. In diesem liegt zugleich die Chance für Ausgleich und Veränderung.