„Für mich existiert sie nicht mehr“, sagt Markus (Andreas Döhler) im Prolog des Films zu seiner Frau Monika (Jessica Schwarz), die ihn zärtlich schützend umfasst. Der etwa 40-jährige Vater eines kleinen Jungen wurde als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht und wird immer wieder von seinen Erinnerungen daran gequält. Später in Florian Eichingers beeindruckendem Film „Die Hände meiner Mutter“, dem dritten Teil einer Trilogie über die Zusammenhänge von Familiengewalt, wird die Szene in dem „Markus“ betitelten Kapitel wiederholt. Auch die anderen Kapitel des genau und konzentriert erzählten Films sind nach einzelnen Familienmitgliedern benannt. Jeweils eröffnet durch einen Blick aus der Vogelperspektive, stehen die Teile für das Ganze. Auch wenn die Perspektive von Markus das Zentrum bildet, sind doch alle anderen Figuren mehr oder weniger von dem „Fall“ betroffen. So sagt der Protagonist am Ende des Films vor versammelter Verwandtschaft, als er zu einer Rede ansetzt: „Direkt oder indirekt geht es um die ganze Familie.“
Entsprechend ist es zu Beginn des Films eine Familienfeier, die in Markus das Trauma reaktiviert. Während auf einer Schiffsfahrt der Geburtstag seines Vaters Gerhard (Heiko Pinkowski) mit aufgesetzter Fröhlichkeit und falschen Reden gefeiert wird, kommt seine ehemals übergriffige Mutter Renate (Katrin Pollitt) ihrem Enkelkind Adam vermeintlich zu nahe. Markus wird durch den nicht eindeutigen Zwischenfall geradezu physisch in die eigene Kindheit katapultiert. Florian Eichinger inszeniert diese schmerzlich gegenwärtigen Erlebnisse und die Kontinuität des Traumas, indem er in den Rückblenden auf die schambesetzten Erlebnisse den erwachsenen Markus spielen lässt. Die Kindheit ist also noch nicht zu Ende, sondern kehrt in Schocks und Zusammenbrüchen alptraumhaft zurück, was zunächst durch die sinnfällige Enge und Isolation auf dem Schiff noch verstärkt wird. Doch auch der daraus folgende Alltag von Markus, besonders seine Ehe und seine Berufstätigkeit, geraten immer deutlicher aus den Fugen.
Es gehört zu den Stärken von Eichingers sorgfältig und völlig unspektakulär am gewöhnlichen Alltagsleben entlang erzähltem Film, dass er zeigt, wie diese inneren Erschütterungen immer weitere Kreise ziehen. Ebenso verhalten wie detailliert entwickelt der Regisseur die ganze Komplexität des gesellschaftlich tabuisierten Themas. Auch wenn Markus in dieser schmerzlichen Geschichte nicht das einzige Opfer ist, sondern sich der sexuelle Missbrauch über Generationen fortsetzt und verzweigt, sind es doch die Wirkungen seiner verstörenden Erfahrungen die ein normales Leben für ihn zunehmend unmöglicher machen. Dabei bleibt beunruhigend, zu sehen, dass Offenheit, Einsicht oder auch Verzeihen unter den Beteiligten weder zwangsläufig die seelischen Leiden mildern noch das Trauma aus der Welt schaffen. Vielmehr zeigt der Film einen schwierigen Prozess der Verarbeitung, der im verminten Gelände von Schuld, Misstrauen und Schweigen erst zu einer Sprache, zum Sprechen finden muss.