Das Sommerdomizil in der Bretagne ist ein verwunschener Ort. Direkt am Meer gelegen, abgeschirmt von Felsen und Bäumen und begrenzt von einem Blumengarten, beschreibt es eine perfekte Idylle. Hier verbringt das Pariser Lehrer-Ehepaar Nathalie (Isabelle Huppert) und Heinz (André Marcon) mit seinen beiden Kindern Chloé und Johann die Ferien. Natur und Kultur, Muße und Arbeit bilden eine organische Einheit. Ablesbar ist das an den vielen Büchern und der geschmackvollen Einrichtung, mit denen Mia Hansen-Løve in ihrem neuen Film „Alles was kommt“ (L’avenir) die Schönheit einer intellektuellen Daseinsform wie mit flüchtigen Pinselstrichen skizziert. Doch wie die Gezeiten mit ihrem Wechsel von Ebbe und Flut ist auch dieses Leben nicht von Dauer. Zweimal erklingt im Verlauf des Films Franz Schuberts Lied „Über den Wassern zu singen“. Das korrespondiert mit Heinz‘ Aufforderung, Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Im Blick auf Chateaubriands Grabstätte über dem Meer in der Schlusseinstellung der Exposition liegt also eine Vorbedeutung für das, was folgt.
„Können wir uns in andere reinversetzen?“, lautet die Eingangsfrage des Films. Nathalie und Heinz, beide leidenschaftliche Philosophiedozenten an renommierten Gymnasien, werden sich ein paar Jahre später trennen, ohne darüber einen Dialog zu führen. Doch weil ein Unglück angeblich selten allein kommt und Mia Hansen-Løve ihr sensibles Frauenportrait zu einer Lebenskrise verdichtet, folgen weitere Schicksalsschläge: Ihre unter Einsamkeit und Panikattacken leidende Mutter (Édith Scob) stirbt und Nathalies Verlag möchte aus marketingtechnischen Gründen ihre „veralteten“ Lehrbücher nicht mehr neu auflegen. Zu diesen Einschnitten und Veränderungen kommt noch, dass ihr ehemaliger Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka), der über Adorno promoviert, sich von ihr emanzipiert und in eine anarchistische Kommune im Vercors zieht. Außerdem bekommt ihre Tochter Chloé (Sarah Le Picard) ein Kind. Zwar sagt Nathalie, sie liebe ihre Arbeit und führe ein intellektuell erfülltes Leben. Doch die von ihr bekundete „totale Freiheit“, in die sie durch diese Verluste gezwungen wird, fühlt sich nicht wie Glück an. Eher erscheint Nathalie als einsame Außenseiterin, die Schwierigkeiten hat, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.
Immer ist die leicht forsch und autoritär wirkende Lehrerin leicht gestresst und in Bewegung. Das korrespondiert mit Denis Lenoirs flüssig und dynamisch gestalteter Kameraarbeit, den oft abrupten, harten Schnitten und den vielen Ellipsen. In diese dicht gefügte Erzählung implementiert Mia Hansen-Løve, die sich mehr für Rhythmus, Struktur und Atmosphäre ihres Films interessiert als für Figurenpsychologie und Handlungsaufbau, ein Geflecht intertextueller Referenzen und Zitate, in denen es unter anderem um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Freiheit und Verantwortung, Jugend und Alter, vor allem aber um die Flüchtigkeit des zerbrechlichen Lebens geht. Das mutet in seiner impressionistischen Kürze und engen motivischen Verzahnung oft plakativ und klischeehaft an, transportiert als poetische Anrufung aber zugleich viel Sinnlichkeit, Gefühl, und Offenheit.