Die Diskussionen um den Status quo des deutschen Films reißen nicht ab. Regelmäßig wird die Abstinenz deutscher Werke auf den bedeutendsten Filmfestivals der Welt beklagt. Wird im Gegenzug in den Erfolgsmeldungen der Fördererinstitutionen auf die beträchtliche Zahl an Koproduktionen mit deutscher Beteiligung hingewiesen (ohne Interesse an den tatsächlichen Beteiligungsverhältnissen). Als Antwort darauf wird die genre-, institutions- und budgetunabhängige Gleichförmigkeit der hiesigen Produktionen angeprangert. Die filmpolitischen Entwicklungen (etwa die FFA-Novellierung oder das noch druckfrische Eckpunktepapier zur nachhaltigen Stärkung der kulturellen Filmförderung des BKM) veranschaulichen wiederum den geringen Spielraum für Veränderungen auf politischer Ebene und das mangelnde Verständnis dafür, dass es mit einer Stärkung des künstlerischen Filmes in den Förderrichtlinien nicht getan ist. Die Sprachlosigkeit auf Podiumsdiskussionen wie „Kino machen Andere – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert“ während der diesjährigen „Woche der Kritik“ vervollständigen das Vanitas-Stillleben des gegenwärtigen deutschen Filmes schließlich von Seiten der Filmkritik. Regisseur Ekrem Ergün, der nach einem Studium der Medienwissenschaften in Potsdam, Schauspiel in Berlin und anschließend Filmregie in New York studiert hat, illustriert mit seinem Spielfilmdebüt „Hördur“ unwillkürlich wie sehr das deutsche Kino derzeit im Stillstand verharrt.
In der Schule sieht sich Außenseiterin Aylin (Almila Bagriacik) den ständigen Mobbingattacken ihrer Mitschülerin Jaqueline (Ceci Schmitz-Chuh) ausgesetzt. Daheim gilt es den Verlust der Mutter zu verarbeiten, den Haushalt zu schmeißen und in der Rolle der Ersatzmama für den jüngeren Bruder zur Stelle zu sein. Irgendwann platzt Aylin der Kragen. Nach einer neuerlichen Attacke Jaquelines, holt sie zum Gegenschlag aus und wird prompt zu Sozialstunden verdonnert, die sie auf einem Pferdehof ableisten soll. Hier trifft sie auf das Islandpony Hördur. Doch entgegen den gängigen Pferdefilmmustern eines „Ostwind“ (Deutschland 2013; R: Katja von Garnier) oder den knisternden Brausepulverfässern der Bibi-und-Tina-Verfilmungen (Deutschland 2014, 2016; R: Detlev Buck) ist das Landleben in „Hördur“ kein Paradies entspannter Ausritte in den Sonnenuntergang, meditierender Aussteiger-Opas und idyllischer Nachmittage im Stroh, sondern erfährt einen realistischeren Einschlag. Aylin muss erst einmal auf Reitstunden verzichten und stattdessen der fortwährend schlechtgelaunten Pferdehofbesitzerin Iris (Felicitas Woll) beim Zaunbau auf dem Acker helfen.
Was auf den ersten Blick eine erfrischende Perspektive auf das Genre verspricht, führt geradewegs auf das Minenfeld des deutschen Problemfilms. Die fiese Mitschülerin Schackeline ist natürlich die typisch deutsche Assischlampe, die – als Teil der Stigmatisierungsstrategie Aylin zum Opfer ihrer Umwelt und Herkunft zu erklären – ihre Funktion wie einen Bauchladen vor sich her trägt. Aylins Vater (Hilmi Sözer) muss selbstverständlich schwarzarbeiten, weil das einerseits besonders prekär und andererseits so typisch Migrant ist. Mit seiner Tochter und seinem Sohn lebt der Witwer zudem im schäbigsten Haus der Stadt, vor dessen Eingang sich der Sperrmüll kunstvoll bis zu den Fenstern stapelt. Das alles wird dann mit dem üblichen, gefühlsduseligen Klaviergeklimper unterlegt sowie mit suizidgrau und valiumblau koloriert, als wären alle Protagonisten hart auf Psychopharmaka. Die kurzschlüssige Moral, die schlussendlich noch Sonne in Aylins Leben scheinen lässt, treibt dem Zuschauer den Zaunpfahl der Verständlichkeit endgültig ins Herz. Im Zuge dieses Hangs zu Eindeutigkeiten liefert der Film brav die Erklärung, dass der isländische Name Hördur übersetzt Krieger heißt. Zwischentöne oder gar Ambivalenzen werden zugunsten des Diktats der Funktionalisierung von vorn herein aufgegeben. Die Annäherung zwischen Iris und Aylin bleibt bloße Behauptung in technisch sauber gefilmten und montierten Einstellungen. Die Ergriffenheit über einen Vortrag Aylins in der Schule veranlasst die gute Aggro-Schackeline urplötzlich dazu ihr Verhalten zu überdenken. Und einer zu Beginn gezeigten Trennungsszene zwischen Iris und ihrem Freund folgt kurz vor Ende des Filmes überraschend eine nur einen Augenblick andauernde Versöhnungsgeste.
Jetzt lässt sich einerseits argumentieren, dass die kraftlose Inszenierung jugendlicher Stereotype auf die Unerfahrenheit des Regisseurs zurückzuführen ist. Die teils notwendige Reduktion auf das Exemplarische mit den Ansprüchen des angestrebten Realismus und den im deutschen Film gern überstrapazierten Symbolismen zu versöhnen ist ein Drahtseilakt, der „Hördur nicht gelingen will, was sich allein schon in der Darstellung der absurden Entfernung des Reiterhofs von der Stadt zeigt. Jeden Nachmittag muss Aylin nach der Schule aufs Land und wieder zurück fahren. Aber der symbolische Übertritt einschließlich noch symbolischerer Fährfahrt will sich aufgrund seiner zeitlichen Dimension und fehlender Referenzpunkte nicht in die ansonsten sehr um Realismus bemühte Szenerie einfügen lassen.
Auf der anderen Seite ist es mehr als bedenklich, dass die Überlegungen eines jungen Filmemacher zur Betrachtungsweise eines Genres ausschließlich in den oft beschriebenen vorauseilenden Gehorsam hineinführen, demzufolge Filme nach unausgesprochenen Erwartungen von Fernsehsendern und Förderanstalten gemacht werden. „Hördur“ sieht eben aus wie Coming-of-Age-Dutzendware und könnte auch „4 Könige“ (Deutschland 2015; R: Theresa von Eltz) oder „Am Himmel der Tag“ (Deutschland 2012; R: Pola Schirin Beck) heißen. Das allein ist eine Katastrophe, doch – so könnte eine These zur ewigen Frage nach der Qualität des deutschen Filmes lauten – „Hördur“ und die genannten Filme können gar nicht anders als schematisch sein. Denn so wie vorauseilender Gehorsam soziale Folgen hat und gesellschaftliches Zusammenleben verändert, verändert diese Form der (Selbst)Beschränkung früher oder später die Wahrnehmung und im Umkehrschluss die Fähigkeit oder den Drang zur kreativen Entfaltung. Es haben sich im deutschen Film ein thematischer Kanon und eine Ästhetik etabliert, die an den Begrenzungen und Simplifizierungen des Fernsehens und nicht an den Möglichkeiten und Komplexitäten des Kinos geschult wurden. Der deutsche Film ist von der Ausbildung bis zur Rezeption psychopharmakologisch. Kreativität wird auf eine zweifelhafte Normalität beschränkt und das Experiment als Krankheit diffamiert. Haltung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich, denn wer kann unter Drogeneinfluss schon aufrecht stehen. Wenn ferner Institutionen wie die Filmbewertungsstelle Baden-Württemberg mit ihren an den fragwürdigen Maßstäben der Positivgesellschaft und des Like-Buttons ausgerichteten Urteilen ihre Plaketten vergeben und Filme wie „Hördur“ mangels Konkurrenz für den Deutschen Filmpreis nominiert werden, bekräftigt das den Status quo des deutschen Filmes.
Die eingangs erwähnte Erhöhung der finanziellen Mittel des BKM für den künstlerischen Film in diesem Jahr mündet demnach in der Frage, woher plötzlich die Künstler kommen sollen, für die dieses Geld gedacht ist, wenn in den Köpfen der Zuschauer und der (zukünftigen) Filmemacher seit Jahren der Kinobegriff neu konfiguriert wird. In diesem Zusammenhang genügt es sich vor Augen zu führen, wie routiniert inzwischen die Aussage getroffen wird, dass es keinen Unterschied zwischen Kino und TV mehr gäbe oder dass Serien das neue Kino wären. Gerade junge Filmemacher sollten sich deshalb umso mehr die Frage stellen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, die Pillen abzusetzen und diesem angsterfüllten Kino des kleinsten gemeinsamsten Nenners mit Haltung zu begegnen.