Mit dem Undergroundkino ist das so eine Sache. Dem einen oder anderen Filmemacher aus der Szene gelingt irgendwann der Durchbruch. Er wird nicht nur von Spezialisten und Festivalbesuchern, sondern von einem breiteren Publikum beachtet. So erging es dem New Yorker Noah Baumbach, dessen sperrige, dialoglastige Minidramen seit zwanzig Jahren unter dem Radar hindurch segelten, bis er spätestens mit seiner prominent besetzten Komödie Gefühlt Mitte Zwanzig' auf vergleichsweise großes Interesse stieß. Die etablierte Kritik ließ Baumbach fallen wie eine Geliebte, von der man sich trennt, weil es nicht mehr chic ist, sich zu ihr zu bekennen. Und nun begeht Baumbach den vermeintlich nächsten Fehler: Seine neue Produktion „Mistress America“ ist ein Frauenfilm.
Baumbach erzählt die Geschichte der 20-jährigen Tracy (Lola Kirke), die sich ihren Studienbeginn in New York anders vorgestellt hat. Die Kurse sind öde, und der Junge, in den sie sich verguckt hat, entscheidet sich für ein todlangweiliges Mädchen, das obendrein eifersüchtig ist. Auch der angesagte literarische Zirkel namens „Moebius“, bei welchem die ambitionierte Schreiberin mit Herzklopfen ihre erste Kurzgeschichte einreicht, lässt sie abblitzen. Zur Einsamkeit kommen so noch Selbstzweifel hinzu.
Ohne große Erwartungen kontaktiert sie die 30-jährige Brooke (Greta Gerwig), die, falls die Heiratspläne ihrer Mutter fruchten, demnächst ihre Stiefschwester sein wird. Die Begegnung mit der umtriebigen New Yorkerin ist zunächst Inspiration pur. Sie wohnt in einem angesagten Loft, singt in einer Band und arbeitet als Fitness-Trainerin. Ganz selbstverständlich nimmt sie Tracy an der Hand und führt sie mitten hinein ins pulsierende Leben. Brooke ist eine verkörperte Wunscherfüllung, eine Mischung aus seelischem Coach und großer Schwester.
Für dieses emotionale Feuerwerk findet Baumbach in seinem neuen Film New-York-Bilder mit mehr Glamour als sonst. Wenn Greta Gerwig als Brooke sich zum ersten Mal mit Tracy am Times Square mit seinen funkelnden Lichtreklamen trifft, dann erinnert ihr Auftritt an den einer Filmgöttin, die in einem alten Hollywood Musical die glitzernde Show-Treppe herabsteigt. Zum dritten Mal steht Greta Gerwig bei ihrem Lebenspartner Baumbach vor der Kamera – ist aber keineswegs nur die Muse des Künstlers. Die Rolle der notorisch kreativen, permanent unter Strom stehenden Selfmade-Künstlerin – die sich sogar die Bedeutung des Wortes „autodidaktisch“ selbst beigebracht hat – schrieb sich die Drehbuch-Koautorin auf den Leib. Ihre aufgedrehte Spielweise und ihre gebrochene Anmut passen perfekt zu diesem halb schrägen Charakter. Wie in Frances Ha', wo Gerwig ihrer Kompaktheit zum Trotz eine Ballett-Tänzerin spielte, die zuweilen mehr taumelte als tänzelte, spielt sie nun eine hyperaktive Glücksritterin, die immer mehrere Eisen im Feuer hat, von denen aber keines so heiß ist, dass man es schmieden könnte. Sie arbeitet nämlich noch als Innenarchitektin und entwirft nebenher das Konzept für eine Superheldin namens Mistress America.
Das idealisierte Bild dieser Überfliegerin ist, man ahnt es, zu schön um wahr zu sein. Das zeigt sich, wenn sie sich daran macht, eins ihrer Projekte zu realisieren. Brooke will ein Restaurant eröffnen: Eine Kombination aus Bistro, Friseursalon, Kunstgalerie und Gemeindezentrum, wo die Kinder am Ecktisch ihre Schularbeiten machen. 'Mom’s' soll der Laden heißen, in dem man sich geborgen wie im Mutterleib fühlt. In der Schlüsselszene will Brooke dieses Projekt auch mit viel Herzblut Investoren schmackhaft machen. Man ist hingerissen von ihrer Performance – der Film ist wirklich eine Art Überdosis Greta Gerwig. Man bemerkt aber allmählich, dass das Konzept mit der Realität nicht viel zu tun hat. Die ambitionierte Gastro-Unternehmerin kann nicht einmal kochen. Und mit der ersten Unterschrift unter den Mietvertrag für die Räumlichkeiten hat sie sich hoffnungslos verschuldet. Kann Brooke noch ein Vorbild für Tracy sein?
Mit diesen beiden Frauen porträtiert der nicht mehr so ganz der Independent-Szene zugehörige Baumbach einmal mehr junge Menschen aus einem jüdisch geprägten New Yorker Intellektuellen-Milieu. Eigentlich liegt ihnen die Welt zu Füßen. Doch mit jener zwanghaften künstlerischen Selbstverwirklichung, die ihre aus dem Kulturbetrieb stammenden Eltern ihnen vorleben, stehen sie sich selbst im Weg. Originell sein zu müssen, erweist sich als schwere Bürde.
Das gilt nicht nur für Brooke, sondern auch für Tracy, die während einer Autofahrt die bedeutungsschwangere Frage stellt: „Habt Ihr nicht auch das Gefühl, dass wir fahren, aber nicht vorankommen?“ Mit dieser bemühten Tiefsinnigkeit – die Baumbach wie schon in seinen früheren Filmen zelebriert und zugleich ironisch bricht – sehnt die ambitionierte Schriftstellerin sich einen metaphysischen Weltschmerz herbei. Sie will leiden wie ihre literarischen Vorbilder. Dann wäre sie wenigstens berühmt!
In einer aberwitzigen Wendung erzählt Baumbach, wie ein solches Leid tatsächlich von Tracy Besitz ergreift: Sie begleitet Brooke, die inzwischen mit einer Kristallkugel herausgefunden zu haben glaubt, wer am Zusammenbrechen ihrer Luftschlösser schuld ist. Es ist ihre frühere Busenfreundin Mamie Claire (Heather Lind), eine spießige Zicke, die inzwischen in einer Designer-Villa in Connecticut lebt. Sie spannte Brooke damals nicht nur den wohlhabenden Liebhaber aus. Sie hat ihr obendrein ihre beiden Katzen und die lukrative Idee für ein T-Shirt-Design geklaut, das nun von einem exklusiven Modelabel vermarktet wird.
In ihrem Haus kommt es zu einem herrlich skurrilen Showdown, einer Mischung aus klassischer Boulevardkomödie und sophistischer Sitcom. Schwangere Frauen, die elaboriert über William Faulkner debattieren und ein genervter Nachbar, dem die Einfahrt zugeparkt wurde, werfen sich artistisch die Dialogbälle zu. So weit, so gut.
Plötzlich taucht das Skript einer Kurzgeschichte mit dem Titel 'Mistress America' auf. So etwas kann eigentlich nicht funktionieren, doch Baumbach bekommt hier die Kurve. Mit gespannter Neugier lesen nämlich alle Anwesenden gleichzeitig, wie Tracy, die Autorin, das Leben ihrer Freundin literarisch ausbeutet. Statt Brooke als Superheldin zu feiern, reißt Tracy ihr in ihrer Kurzgeschichte die Maske vom Gesicht: „Jede Geschichte ist die Geschichte eines Verrats“, heißt es bereits im Vorspann des Films. Diese Wendung ist umso komischer, als Brooke zunächst als typisches 'It-Girl' gefeiert wird, die 'das gewisse Etwas' verkörpert. Ausgerechnet durch das vermeintlich veraltete Medium Literatur, dem alle Protagonisten ein humorvoll überzeichnetes Interesse entgegenbringen, wird Brooke förmlich dekonstruiert – und zwar von der eigenen Freundin, die sich ihre Rolle aneignet.
Durch diesen Verrat ist Tracy, das Mädchen im braunen Strickpulli, plötzlich genau dort angekommen, wo sie hinwollte: Mit ihrer Geschichte gelingt ihr der Durchbruch. Sie wird sogar in jenem Literaturmagazin abgedruckt, das sie zuvor ablehnte. Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen ist durch diesen Coup leider zerbrochen (oder zumindest schwer angeknackst): Tracy watet knietief durch genau jenen 'metaphysischen Weltschmerz', den sie herbeisehnte. Als Zuschauer kann man stilvoll mitleiden. Das Gefühl dieser gepflegten Melancholie unterstreicht der Film durch seinen 80er-Jahre-Soundtrack, der einen herzzerreißenden Ohrwurm der New Wave Formation Orchestral Manoeuvres in the Dark mit einem treibenden Rhythmus der einstigen Kultband New Order verbindet.
Mit ihrem sophistischen Witz erinnert diese Komödie scheinbar auch an Woody Allen, mit dem Baumbach immer wieder reflexartig in einem Atemzug genannte wird. Der Vergleich hinkt jedoch. Im Gegensatz zu Allen, bei dem weibliche Charaktere meist nur Karikaturen sind, erzählt Baumbach abenteuerlich verdrehte Geschichten über ziemlich beste Freundinnen – die sich nicht wie üblich mit ihren Männerbeziehungen auseinandersetzen. Baumbach inszeniert gewissermaßen die feministische Variante eines Buddy-Movies (Wobei man einräumen muss, dass sich Lola Kirke als Tracy neben Greta Gerwig nicht wirklich entfaltet). Wo zwischen Männern in einer ähnlichen Situation unweigerlich die Fäuste fliegen, wird bei Frauen sublimiert. Es tut aber ungefähr genauso weh.