Hat die Mutter einen Namen und lebt noch, wenn der Abspann rollt? Diese Frage wirft die Journalistin und Illustratorin Sarah Boxer in ihrem Essay „Why Are All the Cartoon Mothers Dead?“ für das Magazin The Atlantic auf und will damit nach Manier des Bechdel-Tests ein altes Trickfilmklischee herausfordern. Denn nicht erst seit „Bambi“ (1942) sterben die Mütter von jungen Animationshelden wie die Fliegen; viele von ihnen haben bereits vor Filmbeginn das Zeitliche gesegnet („Arielle, die Meerjungfrau“, 1989) oder sorgen gleich in der Einführung mit ihrem Ableben für einen ersten dramatischen Höhepunkt („Findet Nemo“, 2003).
Anders ergeht es da auch nicht der Mutter von Ben, dem Helden aus Tomm Moores „Die Melodie des Meeres“. Ihr Name, Bronach, wird zwar genannt, aber nachdem die hochschwangere Frau ihrem Sohn ein Gute-Nacht-Lied vorgesungen hat, ergraut sie mit einem Mal und verschwindet unter Tränen aus dem Kinderzimmer. Als dann der Titel des Films eingeblendet wird, ist sie nach wenigen Minuten Laufzeit schon auf mysteriöse Weise verstorben und hinterlässt neben dem Protagonisten Ben ihren Ehemann Conor sowie die kleine Saoirse.
Das Trauma des Verlusts prägt die zurückgezogen auf einer kleinen Insel vor der irischen Küste lebende Familie auch Jahre nach Bronachs plötzlichem Hinscheiden: Conor, ein Leuchtturmwächter, sucht Trost im Alkohol, während Ben die kleine Schwester für den Tod der Mutter verantwortlich macht und sich ihr gegenüber gefühlskalt, mitunter sogar offen feindselig zeigt. Saoirse hingegen erduldet nicht bloß stumm die Gemeinheiten ihres Bruders, sondern auch die emotionale Distanz des Vaters.
Aus Sarah Boxers Sicht muss „Die Melodie des Meeres“ wohl als Symptom eines Mangels erscheinen, als ein weiteres Auslöschen von potenziellen weiblichen Rollenvorbildern und Identifikationsangeboten. Besonders im Vergleich zu aktuellen Produktionen wie „Home – Ein smektakulärer Trip“ (2015), der sozial-emanzipatorische Anliegen in Form einer Protagonistin of color sowie einer alleinerziehenden Mutter repräsentiert, wirkt Tomm Moores Trickfilm demnach geradezu fortschrittsfeindlich. Doch diese Einsicht täuscht und verkennt, dass im vermeintlich müden Klischee des Muttertods ein nach wie vor kraftvoller Topos lauert.
Denn auf einer symbolischen Ebene wird hier eine weitaus grundsätzlichere Auseinandersetzung ermöglicht als es die bestenfalls kurzfristig wirksamen Figurenaktualisierungen nach gesellschaftspolitischen Kriterien erlauben. Die Möglichkeit, sich im Tod einer fiktiven Mutterfigur eigenem Schmerz und eigenen Ängsten zu stellen, scheint Boxer allerdings nicht zu sehen. Statt eines empathischen Einfühlens verlangt sie nach moralischen Autoritäten, zu denen sich aufblicken lässt. Als großer Sieger aus Boxers Trickfilm-Test geht daher bezeichnenderweise Brad Birds „Die Unglaublichen“ (2004) hervor und mit ihm die Figur Helen Parr/Elastigirl. Während Boxer an Mr. Incredible, dem Ehemann der Mutter/Superheldin, noch seine Glaubwürdigkeit und Unvollkommenheit lobt, verdient Elastigirl nicht etwa aufgrund ihrer Menschlichkeit die Anerkennung der Autorin, sondern wegen ihrer Superman-lichkeit. Helen Parr ist ein feministisches Postergirl, eine ebenso glänzende wie flache Vorzeigefrau, die mit ihrer im wahrsten Sinne unglaublichen Stärke zugleich den Schwachpunkt in Boxers Argumentation aufdeckt.
Der im Oktober verstorbene Schriftsteller und Psychoanalytiker Arno Gruen interpretiert Selbstermächtigungsposen, wie sie auch das biegsame Elastigirl verkörpert, nämlich als Verdrängungsmechanismus gegen erfahrenes Leid und keineswegs als Zeichen für ein Freisein von diesem oder als wirkliche Kraft, seelischen Schmerz auszuhalten. Es herrschen eine Coolness sowie eine Verachtung für das Opfersein, die im im hippen Gewand letztlich nur ein altes Übel fortsetzen: Gruen sieht in Adolf Hitler den Vorläufer unserer Zeit und bemerkt in Bezug auf dessen Entfremdung vom Eigenen und seine Imitation von Menschlichkeit und Stärke: „Er spiegelt in perfekter Weise die heutige Welt wider, in der das Image die Wirklichkeit und die Pose die Verantwortung ersetzt haben.“
In der Figur der Großmutter, die das Leid ihrer im Trauma erstarrten Familie nicht ertragen kann und daher Ben und Saoirse ihrem Vater entreißt, nimmt diese Geisteshaltung auch in „Die Melodie des Meeres“ Form an. Die Oma beteuert zwar, dass sie für die Kinder nur das Beste will, aber perfektioniert mit dieser Aussage bloß ihre Grausamkeit, die über die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Kinder einfach hinweggeht. Ben und seine Schwester stehen damit auf verlorenem Posten zwischen einer erzwungenen Idealisierung der Erwachsenen und dem Unrecht, das diese ihnen antun.
Bens emotionale Zerrissenheit führt den Jungen schließlich in ein Abenteuer, in dem sich sein Alltag und die keltischen Mythen, die er durch die Lieder und Geschichten seiner Mutter kennt, durchdringen. Das Schicksal des Vaters kehrt da in Gestalt eines vor Gram versteinerten Riesen wieder, während die Eulenhexe Macha (eine schöne Hommage an die Hexenschwestern Yubaba und Zeniba aus Hayao Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“, 2001) das gefühllose Verhalten der Großmutter auf die Spitze treibt: Mit Hilfe ihrer Eulen macht Macha nicht nur Jagd auf die Geschwister, sondern auch auf sämtliche Emotionen, die sie ihren Opfern raubt und dann in Einmachgläsern hortet.
Bevor Ben Mitgefühl für seine Schwester Saoirse entwickeln kann, muss er sich erst seinem eigenen Schmerz, der tiefen Trauer über den Tod der Mutter, stellen. Dass ihm dies gelingt und er in dieser Welt der Hexen, Riesen und Erziehungsberechtigten nicht verzweifelt, liegt auch daran, dass Ben sich innerhalb eines narrativen Rahmens bewegt, der Trost, Sicherheit und Sinn spendet. Die Welt ist ihm nicht fremd, er kennt sie bereits aus den Erzählungen seiner Mutter.
Ein solches sinnstiftendes Narrativ bietet auch „Die Melodie des Meeres“ selber und erweist sich dabei als einer dieser Kinderfilme, die das Kindsein nicht über eine vom Marketing anvisierte Zielgruppe definieren, sondern als prägende menschliche Erfahrung. Dass Moore sich mit seinen an Bilderbuchillustrationen erinnernden Zeichnungen auch ästhetisch vom Disney-Imperium und seinen zahllosen Epigonen zurückzieht, ist ihm ebenfalls hoch anzurechnen: Dem Feel-Good-Stumpfsinn, der einen mittlerweile in 3D von der Leinwand anspringt und der jedes erdenkliche Produkt mit den immer gleichen Pinup-Prinzessinnen verkauft, setzt Moore eine verhaltene Melancholie entgegen. Wie kraftvoll und lebendig diese trotz aller Anachronismen ist, zeigt sich auch im Vergleich mit dem anderen Animationsfilm, der in diesem Jahr von der Entdeckung des Kummers erzählt: In Pixars „Alles steht Kopf“ werden die Gefühle nicht bloß zu Verwaltern eines menschenähnlichen Kraftwerks rationalisiert; das menschliche Innenleben entspricht hier zudem erschreckenderweise vollkommen Walt Disneys Vision eines magischen Königreichs – nämlich einem sterilen Freizeitpark.