Gott schuf Himmel und Erde. So steht es schon in der Bibel. Weniger bekannt ist, dass er auch die belgische Stadt Brüssel entstehen ließ. Wir, die Kinozuschauer, erfahren dies aus berufendem Mund. Die 10-jährige Ea ist nämlich Gottes Tochter. Sie lebt im Himmel über Brüssel, den man so noch nicht gesehen hat: Als muffige Kleinfamilie in einer fensterlosen Wohnung ohne Ein- und Ausgang.
In seinem neuen Film erzählt der hierzulande nicht allzu bekannte belgische Regisseur Jaco van Dormael die aberwitzige Geschichte dieser aufgeweckten Göre. Gespielt wird Ea von Pili Groyne, die man aus „Zwei Tage, eine Nacht“ von den Dardenne-Brüdern kennt. Das Mädchen hat allen Grund, ihren Daddy nicht zu mögen. Der Allmächtige ist nämlich kein gütiger Vater mit weißem Rauschebart. Benoît Poelvoorde, noch gut in Erinnerung als Serienkiller in „Mann beißt Hund“, spielt ihn als übel gelaunten Proleten im Bademantel, der Sportfernsehen glotzt und seiner verschüchterten Frau (Yolande Moreau) nicht viel Freiraum lässt. Dank van Dormaels erfrischendem Erzählstil ist man von dieser skurrilen Fabel augenblicklich fasziniert. Sein Film erzählt nicht nur eine liebenswürdig-schräge Geschichte. Ihm gelingt dies mit phantasievollen Bildern, die er aufreizend lässig auf die Leinwand zaubert – obwohl das Budget sichtbar schmal ist.
Die Wirkungsstädte Gottes zeigt van Dormael als kafkaeske Bürostube, deren Wände rundum aus angestaubten Karteikästen bestehen. In der Mitte des ansonsten leeren Raumes steht ein Schreibtisch mit einem antiquierten PC, wie man ihn vielleicht noch in einer provinziellen Amtsstube findet. Neben der Tatstatur steht ein Whiskyglas. Diese charmante Retro-Anmutung passt perfekt zu jenem buchstäblich „alten Testament“, das dieser grimmige Gott an seinem Steinzeit-Computer verfasst. Statt zehn Geboten ersinnt er eine verwirrende, unüberschaubare Anzahl von Gesetzen und Gesetzchen. Sie machen den Alltag der Menschen zu einer nur allzu bekannten Qual. Das geschmierte Brot fällt immer auf die Marmeladenseite, und das Telefon klingelt, wenn man gerade in der Badewanne sitzt. Augenzwinkernd zeigt der Film, dass diese Enzyklopädie der Neurosen ein Machtinstrument dieses herrschsüchtigen Gottes ist. Schließlich haben die Menschen ihn ja nach ihrem Ebenbild geschaffen.
Zum Glück gibt es die kleine Ea, die Schwester von JC (sprich Dschäi Ssieh), der als redende Porzellanfigur auf der Kommode steht. Die vorwitzige Kleine spielt ihrem Vater einen diebischen Streich. Sie hackt Daddys PC und teilt allen Menschen ihren jeweiligen Todeszeitpunkt mit. Per SMS. Die Menschen sind verdutzt, nehmen ihr Leben aber nun selbst in die Hand. Sie tanzen nicht mehr nach der Pfeife Gottes. Der ist darüber stinksauer und will seiner Tochter eine tüchtige Abreibung verpassen, doch Ea ist spurlos verschwunden. Wie aber verlässt man Gottes Wohnung, die keine Fenster und Türen hat? Richtig, durch die Waschmaschine, von deren Trommel ein geburtskanalähnlicher Tunnel nach draußen in die Welt führt, mitten in einen Waschsalon.
Van Dormael und sein Ko-Drehbuchautor Thomas Gunzig haben die – nun erst wirklich Fahrt aufnehmende – Geschichte mit Liebe zu ihren Figuren ersonnen. In der Welt der Menschen angekommen, schart die von ihrem rachsüchtigen Daddy verfolgte Ea sechs Apostel um sich, deren verfahrene Lebenssituationen in herzzerreißenden Mini-Episoden skizziert werden. Da gibt es einen Peepshow-Besucher, der unter all den Frauen, die er begafft, jene eine sucht, die er als Kind sah, als er am Strand eingebuddelt dalag. Ein anderer Junge wird von Klassenkameraden gehänselt, weil er sich wie ein Mädchen anzieht. Und es gibt einen melancholischen Scharfschützen, der sich in eine depressive Einarmige verliebt.
In seinem erzählerischen Furor hat der Belgier keine Berührungsängste mit visuellen Kalauern. Berichtet die junge Erlöserin beispielsweise, die Stimme ihres ersten Apostels würde klingen wie dreißig Männer, die Walnüsse knacken – dann zeigt der Regisseur eben jene Männer, die an einem ewig langen Tisch sitzen und im Akkord Walnüsse knacken. Anarchische Gaga-Bilder dieser Art werden aber nie zu einer Masche. In seinen Skizzen gescheiterter oder hoffnungsloser Lebensentwürfe changiert van Dormael gekonnt zwischen phantasievollem Klamauk und humorvoll gebrochener Melancholie. Und wenn man einmal das Gefühl hat, jetzt fällt ihm wirklich nichts mehr ein, dann zaubert er plötzlich Catherine Deneuve aus dem Hut, die als frustrierte Ehefrau mit einem Gorilla ins Bett geht. Buchstäblich.
Im Gegensatz zur apokalyptischen Abrechnung mit dem Katholizismus, den sein belgischer Landsmann Vincent Lannoo mit „In the Name of the Son“ bebilderte, schlägt van Dormael eher moderate Töne an. Die Frage, was man mit dem Leben anfängt, wenn man den Todeszeitpunkt kennt, wird nicht mit Kopf zerbrechendem philosophischem Tiefsinn ausgeleuchtet. Es geht nicht um die großen Modelle, sondern eher um individuelle Entwürfe. Tiefsinn findet man eher bei der vermeintlich flachsten Figur des Films: Mit der sicheren Gewissheit, dass ihm bis zu seinem vorhergesagten Todeszeitpunkt ja noch Jahrzehnte bleiben, betreibt der junge Kevin (Gaspard Pauwels) – Vertreter der Generation rundum Sorglos – die Herausforderung des Todes als Fun- bzw. immer drastischere Extremsportart. Kreischend vor Lachen hüpft er am Ende ohne Fallschirm aus dem Flugzeug. Sein blindes Vertrauen darin, dass er schon irgendwie gerettet wird, ist eine Metapher für ein technisiertes Zusammenleben, in dem der ziellose Hedonismus über ethische Verantwortung obsiegt hat.
Befreiung gibt es in dieser Welt nur durch die kleinen und schönen Dinge. In diesem Sinn übernimmt in der wundervoll beiläufigen Schlusssequenz Gottes Frau den PC ihres in den Niederungen der Welt verschollenen Gatten. Bei ihren behutsamen Versuchen, die triste Realität ein wenig aufzuhübschen, entdeckt sie ein Menü, bei dem man für das Hintergrundmuster des Himmels verschiedene vorgegebene Blümchenmuster anklicken kann: Und schon ist die Welt etwas farbenfroher. Das gilt ebenso für das Kino, das durch diese ungebremste Lust am Fabulieren gewinnt.