Es gibt Filmbilder, die sich sofort ins Gedächtnis einbrennen, weil sie etwas ausdrücken, das man irgendwie erwartet, so aber noch nie gesehen hat: Ein weiblicher Vampir, in einen tiefschwarzen Tschador gehüllt, surft auf einem Skateboard durch menschenleere Straßen. Diese Kombination mag forciert, vielleicht sogar prätentiös erscheinen. Doch in Ana Lily Amirpours hypnotischem Gruselfilm entwickeln sich dieses und jedes weitere Bild aus dem vorangegangenen mit einer selten gesehenen Selbstverständlichkeit.
„A Girl Walks Home Alone at Night” ist zunächst eine Wiederentdeckung der Langsamkeit. Aufreizend lange steht Arash, ein junge Antiheld mit James-Dean-Tolle, zu Beginn am Spalt eines Bretterzauns, den er schließlich passiert, um wenige Sekunden später mit einer Katze im Arm wieder zu erscheinen. Mit diesem liebevollen Understatement beginnt eine einfach strukturierte Geschichte, die es jedoch in sich hat. Als Arash, gespielt von dem in Teheran geborenen deutschen Darsteller Arash Marandi, zurück nach Hause zurückkommt, hat er Besuch. Saeed (Dominic Rains), ein protzig auftretender Zuhälter und Dealer, will das Geld eintreiben, das er Arashs Junkie-Vater für seinen Stoff vorgestreckt hat. Der Junge kann nicht zahlen. Also nimmt der Drogenhändler ihm sein Auto weg. Aus Verzweiflung und Wut über den Verlust seines Ford Thunderbird, für den er lange gearbeitet hat, schlägt Arash mit der Faust gegen eine Mauer. Die Verletzung, die er sich dabei zuzieht, wird zur unterschwelligen Insignie einer ganz anderen Art von Stärke.
Ihr Kinodebüt, dem eine Kurzfilmfassung voranging, bezeichnet Ana Lily Amirpour als „ersten iranischen Vampir-Western“. Er lief auf dem Fantasy Filmfest und hatte einen Kinostart. Die Kritiken, fast durchweg überaus positiv, lobten die gelungene Mischung aus Gangsterfilm im Retrostil, die durch ihre an Jim Jarmusch erinnernde Schwarzweiß-Fotografie überzeugt. Schaut man sich daraufhin den auf DVD und Blu-ray publizierten Film an, so ist man verblüfft, wie wenig das, was man tatsächlich zu sehen bekommt, in den Besprechungen beschrieben wurde. Man ist vor allem überrascht, dass der stylische Look, der als alleiniges Merkmal hervorgehoben wurde, kein Selbstzweck ist.
Tatsächlich erzählt Amirpour eine Geschichte von faszinierender Geradlinigkeit. In der Parallelmontage führt ihr Film eine namenlose, schweigsame junge Frau ein, die in einer gruftartigen Souterrainwohnung lebt. Sie hört anregenden Disko-Pop im 80er Jahre Stil, der sofort ins Ohr geht, obwohl man ihn nicht kennt. Später nimmt sie den Zuhälter Saeed ins Visier, der in seinem neuen Auto eine Prostituierte trifft. Mit einer Mischung aus Gewaltandrohung und machohafter (Pseudo-)Zärtlichkeit zwingt er sie zum Oralsex. Diese ritualisierte Unterdrückung wird unaufdringlich und doch präzise analysiert: Der in sich selbst verliebte Zuhälter versetzt sich in den Glauben, dass die unterworfene Frau tatsächlich vor seiner „Männlichkeit“ schwach wird.
Wie sehr er sich täuscht, zeigt die anschließende Szene. Saeed begegnet nun jener schweigsamen, jungen Frau im Tschador, die er mit nach Hause nimmt, um sie sie mit seiner üblichen Masche zu betören. Als das rätselhafte Mädchen scheinbar lasziv den Mund öffnet und mit einem laut hörbaren Klack! die spitzen Zähne ausfährt, sehen wir zum ersten Mal, dass die rätselhafte Erscheinung ein Vampir ist. Allein schon mit diesem grandiosen Bild überschreitet die 1980 in England geborene Regisseurin iranischer Abstammung die Grenzen eines bloßen Genrefilms. Es geht ihr weniger darum, dem Genre eine Variante zuzufügen.
„A Girl Walks Home Alone at Night” wurde in Besprechungen als “feministischer Vampirfilm” bezeichnet – ohne dass klar wurde, warum. Die hier beschriebene Szene verschafft Klarheit: Wie zuvor der Prostituierten steckt der Zuhälter ihr verführerisch den Finger in den Mund, der daraufhin – Rasch – einfach abgebissen wird. Der Subtext besteht hier darin, dass er diese symbolische Kastration kaum noch als Subtext darstellt. Und wenn das rabiate Phantom den verdutzten Macho daraufhin aussaugt – was durch eine blitzartig eingeschobene Zeitraffersequenz ziemlich animalisch wirkt –, dann erhält der zusammengefaltete Pimp seine eigene Botschaft in invertierter Form zurück.
Amirpour hat ihren Film in den USA gedreht, doch die zwischengeschnittenen Ölförderpumpen, die Nummernschilder der Autos und die spärlichen Dialoge auf Farsi deuten darauf hin, dass der Schauplatz im Iran liegt. „Ich wollte einen iranischen Film machen, aber die Frage war, wie das möglich sein sollte. Da ich offensichtlich nicht im Iran drehen konnte, lag die Lösung in der Erfindung des gesamten Films. Ich fand eine trostlose, leblose Ölstadt in der Wüste Kaliforniens, die zur fiktiven iranischen Geisterstadt Bad City wurde …“
In dieser iranischen Geisterstadt tritt die schwarz verhüllte Frau als Dämon in Erscheinung. Dass unter ihrem Tschador ein gestreiftes T-Shirt zu sehen ist, zeigt, dass dieses ganz normale Mädchen eine Art Wiederkehr des Verdrängten verkörpert. In diesem Sinn begegnet die durstige Vampirin zwei weiteren Männern, einer jungen und einer alten Variante jenes Zuhälters, den sie nebenbei gefrühstückt hat. Den kleinen Jungen verschont sie, lässt ihm aber im Schnelldurchlauf jene „Erziehung“ angedeihen, die den in der islamischen Kultur traditionell verhätschelten „kleinen Prinzen“ meist fehlt.
Die Begegnung mit dem alten Mann, Arashs drogensüchtigen Vater, ist der Höhepunkt des Films. Der Junkie versucht den auf der anderen Straßenseite beharrlich neben ihm hergehenden Vampir davonzujagen. Doch der Dämon lässt sich nicht verscheuchen. Jede Bewegung, die der Alte ausführt, wiederholt der Vampir synchron. Obwohl der Film das Spiegelthema nicht direkt bebildert, scheint diese Szene doch eine subtile Antwort auf die alte Frage zu sein, warum der Vampir kein Spiegelbild hat. In seinem bekanntem Aufsatz „Der Doppelgänger“ aus dem Jahr 1914 arbeitet der Freud-Schüler Otto Rank heraus, dass der Blutsauger deswegen kein Bild reflektiert, weil er selbst schon das Spiegelbild ist. Ein Gedanke, der sich nicht von selbst versteht. Das Heimliche wird „unheimlich“, weil es plötzlich als ureigenes Selbst erkannt wird. Auf den Film bezogen, heiß das: Arashs drogenabhängiger Vater wird mit jener Sucht konfrontiert, die er sich nicht eingestehen will, weil er sich das Heroin – wie viele Junkies – zwischen die Fußzehen spritzt. Geht er zu einer Prostituierten, so kann er nicht mit ihr schlafen, sondern sie nur mit der Drogenspritze penetrieren. In logischer Umkehrung eines Marx-Spruchs wird deutlich, dass das „Opium fürs Volk“ jene islamische Religion ist, die zwar chiffriert aber dennoch unmissverständlich angeprangert wird. Die von dieser repressiven Religion „kontaminierten“ Männer werden beseitig und in einem ausgetrockneten Flussbett entsorgt, wo die Leichen neben Autoreifen und Kühlschränken verrotten: Im Gegensatz zum Vampirmythos gibt es hier keine Widergänger.
Die Vielschichtigkeit dieser Phantasie ist damit noch nicht erschöpft. Denn nun begegnet das halb-verschleierte Vampirmädchen tatsächlich seinem Spiegelbild – nämlich dem gebrochenen Helden Arash, der sich für eine Kostümparty als Graf Dracula verkleidet hat und nun auf Ecstasy durch die Straßen von Bad City irrt. Der falsche Vampir Arash bemerkt, dass die echte Blutsaugerin eiskalte Hände hat und wirft beherzt seinen Dracula-Umhang über sie, um sie zu wärmen: Das ist melancholisch und komisch zugleich. Eine wundervolle Szene.
Die zärtlich gezeichnete Begegnung zwischen den beiden steht ihm Zeichen jener Verletzung von Arashs Hand, die er sich nach dem Verlust seines protzigen Autos selbst beigebracht hat. Eine „symbolische Kastration“, die signalisiert, dass er sich nicht über jene repressiv zur Schau gestellte Virilität definiert, wie der narzisstische Zuhälter. Außerdem gehört ihm jene Katze, die in „A Girl Walks Home Alone at Night” eine noch wichtigere Rolle spielt als der entlaufene Stubentiger in „Inside Llewin Davis“ von den Coens. Das liebevolle Schlussbild zeigt, wie beide mit dem Auto Bad City verlassen. Die Katze sitzt zwischen ihnen. Eine angedeutete Triangulierung, die leise Hoffung signalisiert.
Diese heterogenen Stilmittel und Erzählfragmente fügt Ana Lily Amirpour zu einem faszinierend bösartigen Vampirmärchen zusammen. Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“ wirkt dagegen blass und prätentiös. Mit großem visuellen Reichtum und traumwandlerischer Stilsicherheit gelingt der jungen Regisseurin eines der interessantesten Debüts der vergangenen Jahre. Schwarz wie Erdöl, spitz wie Vampirzähne und elegant wie eine Katze.