Eine gespenstische, nahezu apokalyptische Szene eröffnet Raoul Pecks neuen Film “Mord in Haiti” („Meurtre à Pacot“): Im Dunkel der Nacht werden von vermummten Gestalten anonyme Leichen in großer Zahl eingesammelt und auf Lastern abtransportiert. Auch wenn Peck für seine tiefschürfende politisch-philosophische Parabel auf Zeit- und Ortsangaben sowie detaillierte Hintergrundinformationen verzichtet, um eine soziale Modellsituation zu etablieren, ist klar, dass sein Film aus einer sehr speziellen Perspektive die Nachwehen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 beschreibt. Hierfür hat der politisch engagierte Filmemacher, der sich bereits in seiner Dokumentation „Haiti: Tödliche Hilfe“ (2012) auf kontroverse Weise mit der strukturellen Ineffektivität der Katastrophenhilfe beschäftigt hat, in Pacot, einem zerstörten Villenviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, eine Art Kammerspiel inszeniert, das die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung wahrt.
Hier wiederum steht ein wohlhabendes namenloses Ehepaar, gespielt von Alex Descas und der Sängerin Joy Olasunmibo Ogunmakin alias Ayo, vor den Ruinen seiner Villa und damit auch seiner Existenz. Traumatisiert vom Verlust ihres Adoptivkindes, haben sich die beiden Ehepartner entfremdet und verrichten verstockt ihr nutzlos erscheinendes Tagewerk. „Die Stadt ist am Ende, alles ist tot“, sagt einmal der Mann, der immer wieder Botengänge unternimmt, während sich seine Frau bei der ungewohnten Haushaltsarbeit deplatziert fühlt. Die beiden wohnen jetzt in Umkehrung ihres Status in der provisorisch eingerichteten Garage, weil die Hausruine einsturzgefährdet ist. Trotzdem haben sie einen noch intakten Haustrakt an den Katastrophenhelfer Alex (Thibault Vinçon) vermietet, der mit seiner jungen, provozierend lebenslustigen Freundin Andrémise (Lovely Kermonde Fifi) einzieht. Der vom Hausbesitzer skeptisch betrachtete Ausländer wird vor allem für die aus der armen Landbevölkerung stammende Haitianerin zur Projektionsfläche für ein besseres Leben.
Raoul Peck entwickelt aus den komplexen sozialen Beziehungen seiner Protagonisten, zu denen sich schließlich auch noch der frühere Hausdiener Joseph (Albert Moléon) gesellt, ein sehr pessimistisches, nahezu hoffnungsloses Bild des Menschen. Während immer wieder Nachbeben die Szenerie erschüttern und dem Haus neue Risse zufügen, befinden sich die Überlebenden, einerseits vor Angst zitternd, andererseits von sexuellem Begehren getrieben, in einem permanenten Kampf gegeneinander. In diesem sucht fast jeder, obwohl mehr oder weniger desillusioniert, seinen Vorteil. „Wir bleiben Tiere“, heißt es einmal über diesen Sozialdarwinismus, der das Elend der Armen bestätigt und sie dem Status quo der alten, kolonialen Ordnung opfert. „Ich musste tief ins Fleisch schneiden, im wörtlichen wie übertragenen Sinne“, hat Raoul Peck die kompromisslose Radikalität seiner Sicht auf die Macht der Starken und die von ihnen ausgebeuteten Schwachen kommentiert, die unerlöst bleiben.
Fast noch stärker und gewichtiger wirkt in seinem Film allerdings die ins Existentielle gewendete Dimension dieser sozialen Verfassung. Jenseits der Hierarchien und materieller Werte, die im Angesicht der Katastrophe für eine kurze Zeit außer Kraft gesetzt und nivelliert sind, vermittelt der aus Haiti stammende Regisseur ein Bild des nackten, auf sich und sein Dasein zurückgeworfenen Menschen. Während die teils surreal anmutende, in genau komponierten Einstellungen erfasste Szenerie der Zerstörung leitmotivisch vom Geruch der Verwesung durchzogen wird, scheint die Vitalität der Natur, von emsigen Ameisen bevölkert, in ihrem wilden Wachsen ungebrochen. Raoul Peck erzählt hier im übertragenen Sinn, wobei die Handlung durch die Zählung der einzelnen Tage gegliedert ist, eine Art negative Schöpfungsgeschichte beziehungsweise von einem chaotischen Zustand vor allem Anfang. Denn „Mord in Haiti“ endet mit einem Zitat aus der Genesis, das die Dualität des ersten Schöpfungsaktes beschreibt: „Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“