Ein spukendes Bücherregal macht den Anfang in Christopher Nolans Science-Fiction Film „Interstellar“. Aufgeweckt vom Geist hinter (oder in) den Büchern schleicht die zehnjährige Murphy (Mackenzie Foy) im Zwielicht des anbrechenden Tages ins Schlafzimmer ihres Vaters Cooper (Matthew McConaughey), der ihr, aufgeschreckt von seinen eigenen Albträumen, zu verstehen gibt: „There’s no such thing as ghosts.“ Begleitet wird diese Szene von zunächst einmal befremdlich wirkenden Interviews. Sie beschreiben parallel zum beginnenden Tag die Lebensumstände der Protagonisten, in denen Sandstürme und ausbleibende Ernten zum Alltag gehören. Es ist eine schlichte, aber gerade darum großartige Eröffnungssequenz, weil sie ganz beiläufig unterschiedliche Arten von Geschichten sowie das jeweilige Vertrauen das diese einfordern in den Mittelpunkt rückt. Christopher Nolans „Interstellar“ ist somit nicht nur Film über die phantastische Reise eines Forscherteams auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die Menschheit oder über einen Vater, der für ebendiese Reise seine Tochter verlassen muss, ohne zu wissen, wann er zurückkehren wird. „Interstellar“ ist vielmehr ein Film über die Notwendigkeit des Erzählens in einer geschichtslosen Zeit.
„Wer auf das Erzählen verzichtet,“ schreibt Odo Marquard in „Skepsis in der Moderne“, „verzichtet auf seine Geschichte.“ Erst mit dieser Geschichte – den Erzählungen von Grenzüberschreitungen und das Denken verändernden Erfahrungen – ist ein Zukunftsentwurf überhaupt möglich. Unter den derzeitigen Bedingungen ist das Entstehen von etwas Neuem jedoch unmöglich, da die Gegenwart einen totalitären Anspruch erhebt. Zukunftsorientiertes Handeln erschöpft sich heute nahezu vollständig in den auf Kurzfristigkeit hin ausgelegten Begriffen von Wachstum und Wettbewerb. Jenseits des tagespolitischen Aktionismus im immer schneller schlagenden Takt der Börse ist der Politik jeder Gestaltungswille abhanden gekommen. Resultat ist ein radikaler Zukunftsverlust, der das Wunschbild eines möglichen, anderen Zusammenlebens per se ausklammert.
Geschichten im Sinne einer Utopie werden uns heute vorrangig von transnationalen Konzernen erzählt. Deren Fortschrittserzählung kennt jedoch lediglich das nächste Gadget, das in immer kürzeren Abständen ausgetauscht werden muss. Zukunft ist hier zum großen Teil nur die Vision einer Technik, die darin benutzt wird – alles geht so weiter wie immer, nur eben besser. Der Mensch wird in diesen Utopien vehement auf sein Dasein als Konsument verkleinert. Als solcher benötigt er keine Geschichte, die das Kaufen von Produkten, die selbst keine Geschichte mehr vertragen (sei es nun der kurzlebige Ikea-Schrank oder der per geplanter Obsoleszenz in frühzeitigen Ruhestand versetzte Drucker), nur behindern würde. Andererseits ist er unter dem Diktat einer sich angeblich in konstantem Wandel befindlichen Welt unablässig damit beschäftigt sich zu optimieren und anzupassen und damit eine eigene Geschichte zu inhibieren. Die Pseudogemeinschaften der Sozialen Netzwerke mit ihrem Zwang zur unablässigen Präsenz (der nach Byung-Chul Han zugleich einen Zwang zum Präsens darstellt) erschweren das Entstehen eines zum Handeln fähigen Subjekts oder gar einer Gemeinschaft zusätzlich. In der unablässigen Kommunikation, die diese Netzwerke ausgelöst haben sowie der allgemeinen Informationsflut des Internets werden sämtliche Inhalte gleichwertig und damit herkunfts- und geschichtslos. Denn Informationen benötigen einen Zusammenhang, in dem sich Sinn und damit Geschichte(n) erst entfalten können.
“Interstellar” präsentiert uns in den Anfangsminuten quasi ein mögliches Endstadium dieser Entwicklung. In Murphys Schulbüchern werden die Mondlandungen als Täuschungen dargestellt. Es gibt nur vage Erinnerungen an eine Vergangenheit, die voller Versprechen war und sich nun der Vorstellung entzieht. Was zählt, ist das Hier und Jetzt, eine Welt der “caretakers”, nicht der “pioneers”. Nolans Diagnose ist geprägt von einer großen Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt. Sein Protagonist Cooper kann sich auf seiner Reise durch den interstellaren Raum nur schwer mit den Robotern TARS und CASE anfreunden, weil es ihnen an Intuition und Erfahrung (und damit Bezugnahme auf eine Vergangenheit) mangelt. Er widerspricht ihren Berechnungen (CASE: „It’s impossible“; Cooper: „No, it’s necessary“), bis diese in der spektakulärsten Szene des Filmes – in der es wie an vielen Stellen darum geht, eine Verbindung zwischen Objekten unterschiedlicher zeitlicher oder räumlicher Ordnung herzustellen – einen wahnwitzigen Schritt gehen und Irrationalität zulassen: „Cooper, this is no time for caution.“ Das Misstrauen des Regisseurs schlägt sich überdies in der Produktionsweise des Filmes nieder. Gedreht auf Filmmaterial, beharrt er auf der Verwendung klassischer Spezialeffekte anstatt computergenerierter Bilder. Und tatsächlich entsteht auf diese Weise eine andere, greifbarere Materialität, die im Gegensatz zur Glätte des digitalen Bildes bereits an der sichtbaren Oberfläche an eine Kinotradition anzuknüpfen vermag.
Die erstaunlichste Verbindung auf erzählerischer wie formaler Ebene gelingt „Interstellar“ allerdings mit den so unscheinbar wirkenden Interviewszenen, die in unregelmäßigen Abständen mit der Handlung verflochten werden. Sie entstammen dem Dokumentarfilm „The Dust Bowl“ (R: Ken Burns; USA 2012) über die schweren Sandstürme in Nordamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1930 und die Menschen, die davon betroffen waren. Christopher Nolan verbindet seine Geschichte mit der amerikanischen Geschichte einer Zeit, die ebenfalls von einer großen Krise geprägt war und in der der heute alles bestimmende Neoliberalismus, der die Entkopplung des Menschen von seinen Geschichten maßgeblich vorangetrieben hat, seine Wurzeln hatte. Die Verbindung ist deshalb so außerordentlich gelungen, weil in einigen Interviews, die auf den ersten Blick ja alle aus ‚The Dust Bowl‘ stammen müssten, eine um viele Jahre gealterte und deshalb anfangs nicht zu erkennende Figur aus „Interstellar“ zu sehen ist. Erst ganz am Schluss wird man sich der Retrospektivität des Filmes bewusst. Es ist eine vielschichtige und magische Korrelation von Realität und Fiktion, von Vergangenheit und Zukunft, die in keinem Genre hätte besser erzählt werden können als im Möglichkeitsgenre Science-Fiction.
Wie in keinem anderen Film in den letzten Jahren ist es in „Interstellar“ wieder möglich, etwas zum ersten Mal zu sehen, zu erfahren und ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, ein Pionier zu sein. Im Gegensatz zu den ewig um sich selbst kreisenden marvelesken Materialschlachten lässt „Interstellar“ den Zuschauer mit jeder Filmminuten näher an den Rand des Kinosessels rücken, lässt ihn tatsächlich Grenzen überschreiten; Grenzen, die unser Vertrauen in Geschichten verlangen, gerade weil sie nicht Eskapismus predigen und vergessen werden können, sondern mithilfe eines Bücherregals, eines Wurmloches und dokumentarischem Material eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaffen. Aus diesem Grund verschränkt Nolan die Interviews aus „The Dust Bowl“ mit der Handlung seines Filmes: um aus Historischem, eine Geschichte über bereits geschehene Zukunft in unserer Gegenwart zu erzählen. Es mag in „Interstellar“ um die klassischen metaphysischen Fragen gehen, im Kern versucht der Film uns jedoch aufzuzeigen, dass die wichtigste Frage unserer Zeit (ganz im Sinne Harald Welzers) die nach der Geschichte ist, die wir von uns selbst in der Zukunft erzählen wollen. Also! Wer wollen wir gewesen sein?
Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Interstellar‘.