„Escobar – Paradise Lost“ ist eine spanisch-französisch-belgische Koproduktion mit Jungstar Josh Hutcherson („Die Tribute von Panem“) als Surferboy Nick, der sich gemeinsam mit seinem Bruder Dylan (Brady Corbet) an der idyllischen kolumbianischen Küste den Traum einer eigenen Surfschule und eines Hippie-Lebens erfüllen will, dann aber in die Fänge von Pablo Escobar gerät.
Wie allgemein bekannt sein dürfte, gab es Pablo Escobar wirklich. Schon Ronald Reagan hatte den berüchtigten Drogenkartell-Chef als psychopathischen Serienkiller eingestuft; George Bush Senior setzte ihn später dann auf die Liste der ultimativen Superschurken und auf eine Stufe mit seinem Erzfeind Saddam Hussein.
Aber wie trifft ein Normalsterblicher auf das personifizierte Böse? Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano erklärt dies wenig originell mit einer Liebesgeschichte. Nick begegnet María (Claudia Traisac), der Nichte des Paten, mit der er eine Beziehung eingeht und die ihn in den Familienclan einführt.
Er ist Kanadier und ein wenig unbedarft, was als Erklärung dafür herhalten soll, dass Nick zunächst nicht weiß, dass der Onkel seiner Freundin der meistgesuchte und reichste Verbrecher der Welt ist. Deswegen entscheidet er sich auch dazu, den Traumstrand zu verlassen und freiwillig zum Gefangenen in der irrealen Welt von Escobars Narco-Ranch zu werden. Zunächst glaubt er, seinem Traum vom Paradies näher gekommen zu sein, aber als er eines Tages ein paar Mitarbeiter seines Gastgebers in blutverschmierter Kleidung beobachtet, die Leichen entsorgen, kommt er doch ins Grübeln. Scheinbar ist der Verwandte seiner Freundin, doch nicht der charmante und joviale „Onkel Pablo“, der liebevolle aber manchmal etwas exzentrische Gastgeber, für den er ihn bislang gehalten hat.
Als María – wir schreiben das Jahr 1989 – aus dem Fernsehen erfährt, dass der kolumbianische Präsidentschaftskandidat Luis Carlos Galán, der für den Fall seiner Wahl eine verstärkte Offensive gegen die Drogenmafia angekündigt hatte, im Auftrag ihres Onkels ermordet wurde, kann sie das nur schwer glauben, beschließt aber, zusammen mit ihrem Freund das Land zu verlassen. Bevor die beiden fliehen können, wird Nick zum Paten gerufen. Der kleine „Freundschaftsdienst“, den dieser einfordert und mit dem er Nicks Treue auf die Probe stellt, hat tödliche Konsequenzen.
In dieser kurzen Zusammenfassung wird schon deutlich, dass nicht besonders viel Energie ins Drehbuch gesteckt wurde. Die Handlung ist, obwohl sie lose von einer wahren Begebenheit im Umfeld Escobars inspiriert sein soll, recht unglaubwürdig. Die Figurenkonstellation ist auch nicht neu, sie erinnert stark an Kevin Macdonalds „The Last King of Scotland.“
Man merkt, dass Josh Hutcherson ein guter Schauspieler ist, aber dennoch wird die von ihm verkörperte Figur aufgrund ihrer Naivität und Verblendung niemals zum Sympathieträger. Die Nebenfiguren dagegen bleiben seltsam blass. In wenigen Minuten wird erzählt, wie Nick und María sich kennenlernen und sie ihn in die Familie einführt. Danach taucht sie nur noch als Stichwortgeberin auf. In keinem Moment wird erkennbar, warum oder dass sie Nicks große Liebe ist, für die es lohnt, sich das Leben zu ruinieren. Auch Brady Corbet darf als Dylan ein paar Mal betroffen in die Kamera schauen und seinen Bruder vergeblich warnen und verschwindet dann.
Zurück zu den Tatsachen: Gut geschmiert mit Escobars Dollars verabschiedete der Kongress Anfang der 1990er Jahre eine neue Verfassung, die die Auslieferung kolumbianischer Staatsbürger in die USA verbot. Daraufhin handelte Escobar, obwohl er offiziell auch in Kolumbien ein Public Enemy war, die Bedingungen seiner (freiwilligen) Gefangennahme aus und der Staat baute ihm ein Gefängnis nach seinen Wünschen. Er diktierte also selbst die Bedingungen des Krieges gegen ihn. Diese Begebenheit nimmt der Film in seine Handlung mit auf. Nick soll als Quasi-Verwandter mithelfen, die ökonomischen Ressourcen des Drogenimperiums zu sichern, bevor der Patrón sich ausliefert – und dabei die Zeugen beseitigen. Hier setzt die Handlung ein, die ganze Vorgeschichte wird in einem Flashback erzählt. Das Problem ist, dass die Schachtelkonstruktion recht ungeschickt anmutet und die Chronologie der Erzählung jegliche Spannung im Keim erstickt.
Damit der Zuschauer auch bloß alles versteht, werden entscheidende Szenen nach der langen Rückblende noch einmal wiederholt. Dies ist unnötig und wirkt ein wenig bevormundend.
Regelrecht aufdringlich und voller Klischees ist die Bildsprache. Ein Beispiel: Nachdem Nick letztlich gemerkt hat, wie tief er selbst in die schmutzigen Machenschaften des Medellín-Kartells verstrickt ist und ein großes Problem hat, flüchtet er sich natürlich in eine Kirche. Im wahrsten Sinne des Wortes hat er blutige Hände. Immer wieder werden Kruzifixe in Großaufnahme gezeigt. Begleitet wird diese pathetische Szene von dramatischer Musik.
Anders als Nick ist Pablo Escobar eine schillernde Figur. Wäre der „echte Escobar“ der Psychopath und Serienmörder gewesen, als den ihn die konservativen Politiker in den USA bezeichneten, hätte er niemals zur Legende werden können. Was seine Biographie so faszinierend macht, sind die Widersprüche, die sie vereint.
Escobar betrieb als erster den Drogenhandel als Industrie. Von Medellín aus baute Escobar ein Rauschgiftimperium auf und verdiente mit Kokainschmuggel in die Vereinigten Staaten Milliarden. Seine ehemalige Geliebte Virgina Vallejo, damals Kolumbiens bekannteste Fernsehjournalistin, schrieb später in ihrer Biographie „Amando a Pablo, odiando a Escobar' („Pablo lieben und Escobar hassen“): „In den Häusern Pablos waren die Kleiderschränke vollgestopft mit Dollarnoten.' Das Geld wurde nicht mehr gezählt, sondern gewogen.
Mit seinem Geld erkaufte er sich Macht und zog sogar als Abgeordneter in den kolumbianischen Kongress ein – natürlich um seine eigenen Interessen zu vertreten. Er war ein Unternehmer, mit dem sich zeitweise Regierungsvertreter, Großgrundbesitzer, Banker und auch das Militär arrangiert hatten. Dazu galt er auch als Volksheld. Viele sahen ihn als eine Art Robin Hood, der sich, anders als die traditionellen Politiker Kolumbiens, auch um die Armen kümmerte. Er ließ Krankenhäuser, Fußballplätze und Schulen bauen und sogar Stadtviertel für Menschen errichten, die vorher auf Müllkippen gelebt hatten. Aber gleichzeitig war der Tod immer auch sein Machtinstrument und die Form, sich gegenüber seinen Feinden verständlich zu machen. Auf Politiker, Journalisten, Richter, Polizisten, die nicht auf seiner Seite waren, wurde ein Kopfgeld ausgelobt. Auch Unbeteiligte kamen bei Attentaten zu Tausenden zu Tode.
Als Escobar bei einem filmreifen gescheiterten Fluchtversuch im Dezember 1993 erschossen wurde, gönnten sich seine Häscher mit dem toten Staatsfeind ein Triumphbild. Man sieht darauf lachende Soldaten auf roten Dachziegeln vor einem verdrehten Leichnam mit hochgerutschtem T-Shirt. Es sieht ein bisschen so aus, als hätten Jäger ein Tier erlegt. Diese Fotografie wurde zum ikonischen Bild. Escobar war nun endgültig zum Mythos geworden.
Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano will einerseits den Mythos zerstören, andererseits will er aber auch das ganze vielschichtige Bild des Drogenbosses, mit all seinen Details und Facetten in ihrem faszinierenden Zwielicht zeigen. Die Rolle des Pablo Escobar ist mit Benicio Del Toro hervorragend besetzt. Man könnte auch sagen, dieser hat sich selbst besetzt, denn Del Toro fungierte auch als Co-Produzent des Films. Um zu vermeiden, dass der Zuschauer sich allzu sehr mit dem grausam-charmanten Drogenboss identifiziert, der ein hervorragender Entertainer und ein liebevolles Familienoberhaupt sein kann, im nächsten Moment aber die Bedrohlichkeit eines Raubtiers ausstrahlt, greift der Regisseur wieder auf Klischees zurück. Bevor sich Escobar freiwillig ins Gefängnis begibt, wird er als paranoider müder Mann mit wirrem Haar und dichtem Bart gezeigt, der wie Werner Herzogs „Aguirre“ Gott droht. Unweigerlich denkt man bei diesem verwirrten Somnambulen an die ebenfalls ikonisch gewordenen Bilder der Verhaftung Saddam Husseins. Di Stefano möchte mit dieser Analogie wohl sichergehen, dass der Zuschauer auch wirklich verstanden hat, dass Escobar böse ist.
Eine Geschichte über den Mann, der in wenigen Jahren vom Zigarettenzocker und Autoknacker zum Drogenboss und größten Kriminellen des 20. Jahrhunderts aufstieg, hat das Potenzial zum packenden Thriller oder zum Gangsterepos, nur leider nutzt „Escobar – Paradise Lost“ dieses nicht. Besser als diese „Bio-Fiction“, ist der Dokumentarfilm „Pecados de mi padre“ – Die Sünden meines Vaters“, eine öffentlichen Vergangenheitsbewältigung von Sebastián Marroquín, dem Sohn des Paten. Wenn man ein wenig Zeit hat, sollte man in „Escobar, el patrón del mal“ hineinschauen, eine 113-teilige Serie aus Kolumbien (2012), die Escobars ganze Laufbahn und damit den ganzen Wahnsinn der organisierten Kriminalität erzählt.