So haben es sich die orthodoxen Kosaken in ihren traditionellen Trachten sicher nicht vorgestellt. Als sie im März 2013 in das Sacharow-Zentrum in Moskau eindringen wollen, weil sie Russland und Kirche in Gefahr sehen, treffen sie auf andere Widerstände als gedacht. Drinnen findet keine „Vorstellung zum Schutz von Pussy Riot“ statt, sondern der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau ist gerade dabei, ein Stück russischer Geschichte mit seinen „Moskauer Prozessen“ neu ablaufen zu lassen. Von einem orthodoxen Traditionalisten, selbst Ankläger im Prozess und damit an der Kunstaktion beteiligt, werden die Kosaken beschwichtigt: „Hier finden keine anti-orthodoxen Aktionen statt, glauben Sie mir!“ Die Kosaken ziehen ab.
In den realen Prozessen gab es Verurteilungen gegen Kuratoren und Künstler der Ausstellungen 'Achtung! Religion' und 'Verbotene Kunst' sowie gegen die Punkband 'Pussy Riot'. Aufgrund des Aufrufs zum religiösen Hass und wegen Blasphemie. Obwohl die Ausstellung „Verbotene Kunst“ von orthodoxen Gläubigen gestürmt und die Kunstwerke teilweise zerstört wurden, wurden nicht die Kunstzerstörer verurteilt, sondern die Kunstmacher. „Ich habe die Gotteslästerung stoppen müssen“, so einer der randalierenden Orthodoxen. Die Gerichte sahen es wohl ähnlich. „Kirchliche und staatliche Organe arbeiteten reibungslos zusammen, den Zeugen und Experten der Verteidigung wurde kein Gehör geschenkt“, so Milo Rau am Anfang seines Dokumentarfilms über die Schauprozesse, bei denen in Russland Regimekritiker und Putingegner verfolgt wurden.
Das soll sich bei den „Moskauer Prozessen“ ändern. Im Sacharow-Zentrum, wo die Ausstellungen zuvor stattfanden, wird ein improvisierter Gerichtssaal aufgebaut. Alle Meinungen sollen gehört werden, der Prozess gemäß russischem Recht stattfinden. Auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern Beteiligte und Betroffene selbst. Anwälte, Zeugen und Experten treffen in dieser Reinszenierung der Geschichte aufeinander, für eine Beteiligte ist das Verfahren „glaubwürdiger als der echte Prozess“. Diesmal soll eine unabhängige Jury entscheiden, im inszenierten Schauprozess „Kunst“ gegen „Religion“.
In Russland seien Staat und Kirche identisch, „genau darin liegt unsere historische Bedeutung“, sagt der Ankläger, die Werte der russischen Nation und Kultur müssten gegen die modernen Künstler verteidigt werden, die 'die Vorhut eines liberal-totalitären Staates sind, eines liberal-faschistischen Staates, der sich in unser Land eingeschlichen hat'. Klerikale kommen zu Wort und schildern, wie sehr sie sich durch die Kunstaktionen in ihrem religiösen Glauben beleidigt und verletzt fühlten. Auch die Verteidigung fährt schwere Geschütze auf: „Wir befinden uns in höchster Gefahr, vom orthodoxen Fundamentalismus besiegt zu werden.“
Der Film zeichnet das Bild einer gespaltenen, sich im Kampf befindenden russischen Gesellschaft. Und er wirft eine Reihe spannender, weil unbequemer Fragen auf: Wie weit darf Kunst gehen? Wie sehr muss sie auf andere Wertsysteme Rücksicht nehmen? Steht sie unweigerlich im Dienst einer Ideologie? Wie tief wurzelt die Allianz aus Staat und Kirche? Wie weit geht sie, um ihre Macht gegen demokratische Werte zu verteidigen? „Die meisten Russen lehnen die Kunst ab, weil sie ihre Identität als Russen zerstört“, so ein Priester. „Die Künstler erinnern uns, wo es weh tut“, so ein anderer Zeuge im Film. Gerade in solchen Abtastungen der russischen Gesellschaft und ihrer diskurspolitischen Verfassung liegt die Stärke dieses Films. Am Ende entscheidet die siebenköpfige Jury über die vorgebrachten Argumente und bestätigt das Bild der Zerrissenheit.
Die „Moskauer Prozesse“ sind ein wagemutiges Theaterstück, das spannende Fragen aufwirft: Kann die Geschichte mit Mitteln des politischen Theaters wiederholt, reinszeniert und neubewertet werden? Welches Spannungsverhältnis ergibt sich aus dem Ereignis und ihrer Wiederholung? Welche Bedeutung und welche Konsequenzen hat die Neubewertung? Gerade im „Einbruch der Wirklichkeit“, als die Kosaken den Theatersaal stürmen wollen oder russische Sicherheitsbeamte den Prozess unterbrechen, zeigen sich die aufschlussreichen, offenen Wechselwirkungen. Auch der Regisseur selbst ist nicht davon ausgeschlossen. Nach dem Projekt wurde Milo Rau die erneute Einreise nach Russland verweigert.