Im Kino sind Porträts über Frauen mit Obsessionen in der Minderzahl. Nicht nur im Film, auch in der Psychopathologie scheint Zwanghaftigkeit eine Männerdomäne zu sein. An Lynn Zapatek, Hauptfigur in Ingo Haebs subtiler Betrachtung einer jungen Einzelgängerin, muss man sich erst gewöhnen. Lynn ist keine gewöhnliche Putzfrau, sie entwickelt einen obsessiven Putzfimmel. Als Zimmermädchen schrubbt und reinigt sie mit kaum zu übertreffender Perfektion. Sogar den Spülrand des Wasserklosetts inspiziert sie mit einem Zahnarztspiegel. Frauen mit solchen Leidenschaften gibt es natürlich. Ein prominentes Beispiel ist Isabella Rossellini, die in der Presse davon berichtete, dass sie leidenschaftlich putzt und welche Reinigungs- und Waschmittel sie bevorzugt.
Bei Lynn ist man zunächst irritiert, weil ihr Putzfimmel die Zwanghaftigkeit eines männlichen Charakters aufzuweisen scheint. Sie ist eine eher literarische Figur. Sie entstammt Markus Orths’ Roman von 2008. In seinem schmalen Bändchen erzählt der Autor von einer labilen 30-Jährigen, die ein halbes Jahr in der Psychiatrie verbrachte. Nach ihrer Entlassung nimmt sie ihren alten Job im Hotel wieder an. Im Gegensatz zum Film erfahren wir in der Buchvorlage, dass Lynn gekündigt wurde weil sie bei den Hotelgästen etwas mitgehen ließ. Sie lebt isoliert und hat nur dann Kontakt zu anderen Menschen, wenn es sein muss. Beschäftigungslose Zeit macht ihr zu schaffen. Orths beschreibt, wie Lynn die Leere ihrer Freizeit zu bewältigen versucht. Ein freier Tag ist für sie schwer auszuhalten. Einmal wöchentlich geht sie zum Therapeuten, den sie nicht mag. Besonders, wenn er sie mit Deutungen traktiert. Spinnen, vor denen sie Angst hat, seien ein Symbol für ihre Mutter. Mit ihr telefoniert Lynn einmal wöchentlich. Die Mutter möchte gerne mehr Kontakt, doch Lynn kann sich weder von ihr abnabeln, noch auf sie zugehen. Zwischen beiden herrscht eine ritualisierte Sprachlosigkeit, die sich in wiederholten Formeln ausdrückt.
Im Gegensatz zur Buchvorlage hat Ingo Haeb (Buch und Regie) die zuweilen etwas redseligen Reflexionen über die psychischen Probleme der Protagonistin radikal zum Schweigen gebracht. Warum sie in der Klinik war, fragt eine Kollegin. „Das ist meine Sache“, sagt Lynn. Im Film erfährt man erfreulicherweise nicht viel über diese Frau, die zu Männern ein instrumentelles Verhältnis hat und ansonsten ein Rätsel bleibt.
Diese Reduktion erzeugt Raum zur Beobachtung. Sorgfältig komponierte Bilder zeigen Lynns Arbeitsalltag in einem Hotel irgendwo am Meer. Die Luxemburgerin Vicky Krieps, ein unverbrauchtes Gesicht, hält sich angenehm zurück. Man hat das Gefühl, dass ihr zum „Schauspielen“ im konventionellen Sinn keine Zeit bleibt, weil sie permanent putzen muss. Zwischendurch schaut sie alte Filme von Jacques Tati und erzählt ihrem Therapeuten Banalitäten. Auch im Film ist das Verhältnis zu ihrer klammernden Mutter (Christine Schorn) distanziert und von einer unverstandenen Sehnsucht geprägt. Plötzlich fachsimpeln beide übers Putzen: ein wirklich komischer Moment, in dem eine schwer fassbare Nähe entsteht.
Die lakonisch-beiläufige Erzählweise zieht den Zuschauer zunehmend in den Bann. Gespannt verfolgt man, dass Lynn eine Getriebene und ihr Job nur Mittel zum Zweck ist. Akribisch wie sie putzt, schnüffelt sie in den Utensilien abwesender Hotelgäste. In deren Privatsphäre sucht sie nach etwas, was in ihrem eigenen Leben fehlt. Diese Situationen spitzen sich mehr und mehr zu: Die prickelnde Gefahr, überrascht zu werden, wenn sie in die Kleider der Hotelgäste schlüpft, verschafft ihr einen wollüstigen Kick. Zum ersten Mal huscht ein befriedigtes Lächeln über das Gesicht der depressiv erscheinenden Außenseiterin.
Einmal überspannt sie den Bogen und muss unters Bett flüchten – von wo aus sich eine ganz neue Perspektive eröffnet. In dieser Schlüsselszene setzt der Film, der sich ansonsten recht eng an die Vorlage hält, einen leicht verschobenen Akzent, der die Figur plausibler erscheinen lässt. Lynn befindet sich unter dem Bett und nimmt aus dieser speziellen Perspektive heimlich am Leben eines ahnungslosen Hotelgastes teil. Solche Situationen werden im Kino nicht häufig aufgegriffen. In der deutschen Komödie „Geliebte Hochstaplerin“ von 1961 (Regie: Ákos von Rátony) flüchtet Walter Giller als blinder Passagier auf einem Dampfer in die Kabine einer Frau, unter deren Bett er sich versteckt. Von dort aus beobachtet er, wie sie sich entkleidet und auf hochhackigen Schuhen immer wieder hin- und her stöckelt. Man muss psychologisch nicht besonders bewandert sein, um zu verstehen, dass Lynn unter dem Bett die Perspektive eines Voyeurs einnimmt. Von hier unten hat man einen guten Blick auf das rätselhafte Etwas, das sich unter dem Rock eine Frau befinden mag. Voyeure sind eigentlich männlich, doch Lynns Interesse für Schmutz hängt ganz konkret mit der Ambivalenz zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit des Fetischobjekts zusammen: „Nur weil man den Staub nicht sieht, heißt das nicht, dass er nicht da ist“, sagt Lynn einmal. Hier wird Schmutz auf eine poetische Weise „schmutzig“.
Während die Buchvorlage die Geschlechterproblematik nur aus der Ferne in den Blick bekommt, setzt die Verfilmung hier einen interessanten Akzent. Der im Roman nur angedeutete voyeuristische Blick auf die phallischen Stöckel einer Domina, die einen Hotelgast züchtigt, fasziniert Lynn. Direkt vor ihren Augen scheint das Stiletto den Fuß des Freiers zu penetrieren, was diesen sexuell ungemein stimuliert.
Diese Schlüsselszene wird so im Buch nicht beschrieben. Sie führt dazu, dass Lynn eine – bezahlte – Beziehung zu dieser Prostituierten anknüpft, die sensibel beobachtet wird und auf spannende Weise offen bleibt. Sexuelle Identitäten changieren. Ist Lynn vielleicht ein Mann im Frauenkörper? In einigen Momenten fühlt man sich an Ozon erinnert, und Lena Lauzemis als cooles Callgirl könnte eine Transe aus einem Film von Pedro Almodóvar sein. Gewisse Erinnerungen an „High Heels“ werden wach.
Ingo Haeb gelingt eine unaufgeregte, zarte Gendergeschichte mit liebevoller Nähe zu den Figuren. Gerade weil Lynn von den zuweilen etwas aufgesetzten literarischen Reflexionen der Romanvorlage befreit wird, fragt man sich nun, warum sie für ihr nicht der heterosexuellen Norm entsprechendes Begehren und ihre Liebe zum Schmutz pathologisiert wird, sie mit einem Bein in der Psychiatrie steht? In Orths’ Roman macht das irgendwie Sinn, sein Buch ist eine konventionell psychologisierende Geschichte. Ein Mann denkt sich mit viel Aufwand in die Psyche eine Frau hinein, die eigentlich ein Mann ist. Dieses Changieren bekommt die filmische Adaption überzeugender in den Griff. Gelungen ist das poetische Schlussbild, in dem Lynn ihre Mutter besucht und sich dabei überraschend ein Kreis schließt. Eine Katze, im Buch nur angedeutet, erhält hier eine Symbolfunktion. Dank einer glänzenden Hauptdarstellerin zeichnet Ingo Haebs Literaturverfilmung das fesselnde Porträt einer obsessiven, jungen Frau, die in keine Schublade, dafür aber unter viele Betten passt. Wer diesen Film mag, wird beim nächsten Hotelbesuch garantiert erst einmal unters Bett schauen.