„Jetzt wird er zum Mythos verklärt“, kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Rainer Werner Fassbinders. Es gab viele betroffene Nachrufe, aber auch viel Material für die sensationslüsterne Boulevardpresse: Fassbinder, ein Zyniker, der mit Menschen wie Marionetten spielte, der Intrigen inszenierte und nebenbei auch noch Filme drehte, kurzum, „Fassbinder, das geniale Monster“ (so eine Artikelüberschrift). Zwei Jahre nach seinem Tod scheint es an der Zeit, dieses Bild zu revidieren“, schrieb Michael Töteberg 1984 in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Essaysammlung Fassbinders mit dem Titel „Filme befreien den Kopf“. Warum sind diese Sätze plötzlich wieder aktuell? Weil Fassbinder in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Was sich der Kulturbetrieb nicht zweimal sagen lässt.
Was zwischenzeitlich geschah: Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 in München starb, war er gerade 37 Jahre alt geworden. Er hinterließ ein Werk von 44 Filmen, gedreht fürs Kino und fürs Fernsehen, zahlreiche Theater-Arbeiten, Auftritte als Schauspieler in Filmen Dritter, allerlei Interviews und auch verstreut Publiziertes zu u.a. Douglas Sirk oder Claude Chabrol – alles entstanden zwischen 1966 und 1982. Er hinterließ auch ein über die Jahre gewachsenes Team von engen Mitarbeitern und Schauspielern, über dessen interne Dynamiken und Abhängigkeiten in den folgenden Jahren immer wieder einiges zu lesen war. Schon zu Lebzeiten war der Produktionsfuror Fassbinders begleitet von Skandalen. Erinnert sei hier nur an die offen gelebte Homosexualität, die offen gelebte Drogensucht, den Fassbinder-Beitrag zu „Deutschland im Herbst“ oder die Antisemitismus-Vorwürfe um „Die Stadt, der Müll und der Tod“.
Im Pressetext zu Annekatrin Hendels Dokumentation „Fassbinder“ findet sich der Satz: „Kein deutscher Filmregisseur war umstrittener, produktiver und besessener als Rainer Werner Fassbinder.“ Superlative für den Boulevard. 33 Jahre ist Fassbinder jetzt tot. Hierzulande hat er, abgesehen vielleicht von Oskar Roehler, keine Nachfolger gefunden, jedenfalls keine Schule gebildet. Im Ausland könnte man „Fassbinder“ in den Filmen von Ozon, Dolan oder auch von von Trier finden. Die großen Retrospektiven liegen lange zurück. Fassbinder findet in den Kinos und im Fernsehen kaum einmal statt, aber immerhin hat sich die „Fassbinder Foundation“ erfolgreich darum bemüht, die Filme auf DVD zumindest für den Hausgebrauch verfügbar zu halten. Kürzlich kam Schlöndorffs Brecht-Verfilmung „Baal“ mit Fassbinder in der Titelrolle, jahrelang von den Brecht-Erben unter Verschluss gehalten, doch noch auf DVD heraus und setzte den Namen Fassbinder mal wieder kurz auf die Tagesordnung. Und jetzt eben postum der 70. Geburtstag! Eine Ausstellung wird es Berlin geben. Und sonst? Kleines Familienalbum gefällig?
Einen eher erstaunlichen Zugang hat Annekatrin Hendel („Vaterlandsverräter“, „Anderson“) für ihre filmische Recherche gewählt: sie glaubt, dass hinreichend Material vorhanden ist, um den „Filmrebellen“ (Pressematerial) Fassbinder selbst seine Geschichte erzählen zu lassen, „indem sie autobiographische Elemente seiner Werke mit bisher unveröffentlichten Passagen aus seinem schriftstellerischen Frühwerk und Selbstzeugnissen seltener Interviews miteinander verschweißt“ (Pressematerial). Das klingt interessanter, als das Resultat aussieht. Denn Hendel, geboren 1964 in Ost-Berlin, begeht ein weiteres Mal den Fehler, Fassbinders Filme durch seine Biographie und seine Biographie durch die Filme erhellen zu wollen, was nur zur Tautologie führen kann.
Chronologisch wird Fassbinders Karriere von den Anfängen im Action-Theater aufgerollt und dazu werden die üblichen Verdächtigen, sofern noch am Leben, nach Anekdotischem befragt. So plaudern dann Hanna Schygulla, Irm Hermann, Harry Baer, Hark Bohm, Volker Schlöndorff, Günter Rohrbach, Margit Carstensen, Fritz Müller-Scherz, Wolf Gremm und schließlich auch Juliane Lorenz aus dem Nähkästchen. Manchmal hört man die Filmemacherin aus dem Off staunen, was es da alles zu hören gibt. Hauptsächlich Küchenpsychologie: Fassbinder war ja ein Unterdrücker, ein Manipulator, ein Bürgerschreck und stets schlecht gelaunter Rockstar, aber auch ein Engel, der Glanz in so manche Biografie gebracht hat. Er hätte bestimmt gerne richtige Liebesfilme gedreht, hätte er eine glücklichere Kindheit gehabt. Weil dem leider nicht so war, drehte er Filme über sadomasochistische Machtspiele.
Geht es darum, wie Fassbinder das Anti-Theater usurpierte, dann erklären zwei Zeitzeugen, dass dem so war und ein Ausschnitt aus „Fontane: Effi Briest“ scheint den Befund gleich auszusprechen und über Bande zu bestätigen. Geht es darum, dass Fassbinder eine gewisse Laxheit bei Steuerzahlung und Buchführung nachgesagt wird, folgt eine Einstellung, die Fassbinder in einem amerikanischen Sportwagen zeigen. Geht es darum, wie Fassbinder Baer einmal in Paris in eine Schwulensauna lockte, wird eine Schwulensauna aus „Faustrecht der Freiheit“ gezeigt. Und wenn es darum geht, ein Beispiel für die Verzahnung der Fassbinder-Filme zu geben, dann folgt zuverlässig die Erinnerung, dass Margarethe den Plot von „Angst essen Seele auf“ bereits in „Der amerikanische Soldat“ erzählt hatte, allerdings – und das wird hier vergessen – mit einer anderen Pointe. Einmal gibt Margit Carstensen zu Protokoll, dass sie erst spät erfahren habe, dass „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (auch) eine leicht verschobene Darstellung von Fassbinders Beziehung zu Günter Kaufmann gewesen sei. Hendel friert das Filmbild an einer Stelle ein und verdeutlicht die Übertragung mithilfe der Animation.
Am deutlichsten tritt die konzeptionelle Schwäche des Films zutage, wenn es um das Schicksal von El Hedi Ben Salem »nach Fassbinder« geht. Fassbinders Geliebter und Hauptdarsteller in „Angst essen Seele auf“ sei schließlich in einem französischen Gefängnis ermordet worden. Im Film wird gemunkelt: „Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn er in seiner Umgebung einfach geblieben wäre.“ Herrje! Es mag ja durchaus sein, dass Fassbinder sein Privatleben als Material für seine Filme genutzt hat, aber er hat vielfach verschränkte und variierte Abstraktionen doch immer auch auf die Gesellschaft darum herum verallgemeinernd bezogen und wurde dadurch zum Chronisten der west-deutschen Gesellschaft.
Um es mit Thomas Elsaesser zu formulieren: „Der entscheidende Punkt bleibt bei den biografischen und psychoanalytischen Ansätzen ausgeblendet, vielleicht, weil man ihn als selbstverständlich voraussetzt: Was Fassbinder in erster Linie interessant macht, sind seine Filme, ihre emotionale Resonanz und ihre zeitbezogenen Themen.“ Fraglich, ob man diese Dimension in den Blick bekommt, wenn man den Filmemacher auf die Couch legt. Zumal Fassbinder ja selbst öffentlich immer wieder Spuren in diese Richtung gelegt hat. Häufig – und hier auch zu sehen – mit lausbubenhaftem Charme, wenn er zu Protokoll gibt, dass sein Anti-Theater sich „gegen den Staat, gegen Krieg und gegen Gewalt“ richte. Noch fraglicher aber, ob man mit dem Ausbreiten von – älteren Zuschauern eh längst bekannten – Klatschgeschichten der Vermittlung des Fassbinderschen Werkes an eine jüngere Generation dient. Hier macht sich das Fehlen von Filmhistorikern, –kritikern oder auch anderen Regisseuren jenseits von Hark Bohm und Volker Schlöndorff schmerzhaft bemerkbar, weil der Film in der gewählten Form doch sehr oberflächlich bleibt.
Die selbstzerstörerischen Kollektiv-Experimente der 60er und 70er Jahre und ihr Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen jener Zeit sind mittlerweile dann doch in eine historische Ferne gerückt, die heutigen Zuschauer eher obskur oder bizarr erscheinen. Fassbinder hat ein folgendes Bild entworfen: „Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.“ 33 Jahre nach dem Tode des Architekten wäre eine Hausbesichtigung aus der Distanz dringend angezeigt gewesen; das Aufwärmen alter Klatschgeschichten ist dagegen nicht sonderlich produktiv.