Eine Volkszählung zu Beginn des Filmes gibt nüchtern Auskunft über die Welt des Protagonisten. Heli lebt mit seinem Vater, seiner Schwester Estela, seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer Zwei-Zimmer-Hütte mit Wellblechtür auf dem mexikanischen Land. Arbeit haben die beiden Männer des Hauses im nahe gelegenen Automobilwerk. Kühlschrank ist vorhanden, Waschmaschine nicht. Mehr gibt es für das Protokoll und über das Leben kaum zu sagen.
Die Nüchternheit dieser Bestandsaufnahme zieht sich durch den Film und seine Erzählung wie ein roter Faden. Mit bestechender Erzählökonomie entwirft Amat Escalante in seinem dritten Langspielfilm dabei ein Bild des mexikanischen Landlebens, das gezeichnet ist vom Erodieren des Machtgefüges und der Umkehrung aller Werte durch die Herrschaft der Drogenkartelle. Es ist eine Welt, in der richtiges Handeln mit der Logik einer mathematischen Gleichung Bestrafung nach sich zieht.
Als Estelas Freund Beto eines Tages Drogen im Wassertank auf dem Dach von Helis Haus versteckt und diese die Leitung zur Dusche verstopfen, handelt Heli instinktiv richtig und vernichtet das gesamte Paket. Doch schon wenig später werden Beto, Heli und Estela von der Spezialeinheit, für die sich Beto zum Drogenpolizisten ausbilden lässt und die gleichzeitig für ein Drogenkartell arbeitet, gefangen genommen. Ganz egal, für welche Seite man arbeitet: wer Drogen vernichtet, vernichtet Geld. Deshalb ist es für die beiden Jungen an der Zeit „Gott im Land der Verdammten“ kennenzulernen.
Dass es in diesem Land Gott, und damit eine gesellschaftliche Ordnung, allenfalls noch als aus Zeitungen und Katalogen ausgerissene und ausgeblichene Chiffre gibt, die Wände und Türen ziert, macht Escalante mit der anschließenden Folterszene mehr als deutlich. Die „Gäste“ werden ins Heim getragen. Die Kinder räumen die Playstation, auf der kurz zuvor noch ein blutiges Action-Spiel gezockt wurde, beiseite und an der Decke wird ein Fleischerhaken befestigt. Auf dem Sofa finden alle Platz, im Hintergrund geht die Mutter in der Küche ihrer Arbeit nach als würde sie von all dem nichts mitbekommen und das Video des Martyriums soll anschließend auf Youtube gestellt werden.
Die Natürlichkeit in der Verwandlung des Wohnzimmers in eine Folterkammer ist es, die die Gewalt hier unerträglich macht und mit einem Mal verdeutlicht, dass die Eroberung des sozialen Raumes durch die Gewalt und die Auflösung des sozialen Gefüges untrennbar miteinander verbunden sind. Die erwachsene Mutter wird infantilisiert, indem ihr nur ein Nebenraum zugewiesen und jede erzieherische Rolle abgesprochen wird. Folterer und Opfer sind hingegen Minderjährige, die die Rollen von Erwachsenen einnehmen. Die so entstehende Verkehrung von Erwachsenen und Minderjährigen mündet in eine Unterschiedslosigkeit, die ein steigendes Gefühl der Verantwortungslosigkeit bewirkt. Die Sorge für einander, deren Basis eine klare Unterscheidung zwischen Eltern und Kindern ist und damit Erziehung und Identifikation mit gesellschaftlichen Werten und Moralvorstellungen erst ermöglicht, wird in „Heli“ kühl suspendiert.
Auf eine extrem kurze Kindheit folgt die erbarmungslose Welt der Erwachsenen: Protagonist Heli ist in seiner Rolle als viel zu junger Vater mit seinem Sohn offensichtlich überfordert. Seine zwölfjährige Schwester redet mit ihrem Freund Beto – der sich zwar bei der Polizei in Ausbildung befindet, jedoch selbst noch fast ein Kind ist – bereits übers Heiraten. Und gerade in der Unbeholfenheit ihrer Küsse zeigt sich der ganze Widerspruch, der die Bilderwelt von „Heli“ beherrscht.
Das frühzeitige Erwachsenwerden der Minderjährigen ist ein Resultat der strukturellen Unmündigkeit der Eltern. Die in den Nebenraum verbannte Mutter in der Folterszene bringt dies ebenso zum Ausdruck, wie Helis Vater, dessen Aufmerksamkeit nach der Arbeit vor dem Fernseher vollständig absorbiert wird, und der somit als Familienoberhaupt ausgedient hat. Aus dieser sozialen Unfähigkeit, Mündigkeit zu entwickeln, entsteht eine mangelnde Bindung an die Dinge der Welt, eine Bewusstlosigkeit gegenüber dem Leben, in der selbst das Wünschen zu groben Trieben (Helis unbeholfene Versuche mit seiner Freundin zu schlafen) verkümmert.
So ist dann auch den Bildern, ähnlich den Blicken der Kinder, die das Folter-Video aufnehmen, ein Tausend-Yard-Starren angesichts eines Lebens im permanenten Ausnahmezustand tief eingebrannt. „Heli“ ist demnach mehr als nur ein Film über die zerstörerische Kraft der Drogenkartelle, denn diese lassen sich problemlos durch zentrale Institutionen unserer Konsumgesellschaft ersetzen.
Hin und wieder überspannt der Regisseur den visuellen Bogen zwar und lässt einige Szenen ins Groteske und Surreale abgleiten, was einen Pakt mit dem allzu Gewollten offenbart. Doch es ist – und darin liegt die Stärke des Filmes – vollkommen gleich, was geschieht, Figuren und Kamera nehmen jede Entwicklung und jede noch so absurde Übertreibung mit stoischer Indifferenz hin. So bleibt sogar ein Akt der Selbstjustiz gegen Ende des Filmes seltsam leer und unbefriedigend und zwingt den Zuschauer gerade dadurch, eine Position zum Gezeigten einzunehmen.